Immer wieder: Unschuldsvermutung versus die richterliche Beweiswürdigung
In der heutigen Rechtsprechung stehen sich die Unschuldsvermutung und die richterliche Beweiswürdigung oftmals diametral gegenüber. Dies kann insbesondere bei Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen oft fatale Folgen für den Angeklagten nach sich ziehen. Tatsächlich sind jedoch die überwiegenden Ermittlungsverfahren, Anklageschriften und Gerichtsurteile im Sexualstrafrecht von dieser Unzulänglichkeit geprägt.
Das unzuverlässigste Beweismittel als einziges Beweismittel?
Diese Konstellation ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Beschuldigung bzw. die Anklage auf allein ein einziges Beweismittel – nämlich die Belastungsaussage des (vermeintlichen) Opfers stützt. Wesentlich hier: Die Angaben werden nicht durch unmittelbar tatbezogene weitere Indizien wie etwa Videoaufzeichnungen oder eindeutige Spuren belegt.
Völlig anders also als bei den meisten Vorwürfen im Strafrecht.
Die Verteidigungsmöglichkeit des des Angeklagten ist in derartigen Fallkonstellationen extrem eingeschränkt. Uns bleibt im Grunde lediglich die Möglichkeit, die Belastungsaussage mit den Mitteln der Aussagepsychologie anzugreifen und in ihrer Glaubhaftigkeit zu erschüttern.
Hinzu kommt: im Strafprozess haben Zeugenaussagen nach wie vor einen hohen Stellenwert. Und das, obwohl sie das wohl unzuverlässigste Beweismittel überhaupt sind.
Grundsatz der freien Beweiswürdigung und Nullhypothese
Gleichzeitig überlässt die Strafprozessordnung, dort § 261 StPO, der sog. “Grundsatz der freien Beweiswürdigung”, dem Richter die Entscheidung darüber, ob diese einzige Belastungsaussage glaubhaft ist.
Der Richter entscheidet also nach eigenem Ermessen, ob die Belastungsaussage in ihrem Beweiswert schwerer wiegt als die bestreitende Aussage des Angeklagten. Und damit geeignet ist, die aus dem Rechtsstaatsprinzip und Art. 6 Abs. 2 MRK folgende Unschuldsvermutung – aussagepsychologisch manifestiert in der sog. Nullhypothese, auszuhebeln.
Ansatzpunkt der Nullhypothese ist dabei die Unterstellung, die Aussage sei unrichtig. Es bedürfte daher des Auffindens von Indikatoren aus dem Aussagematerial, die diese Grundannahme widerlegen – nicht umgekehrt.
Indes postuliert § 261 StPO: „ Über das Ergebnis einer Beweisaufnahme entscheidet jeweils das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“. Maßgeblich ist also die persönliche Überzeugung des Richters. Für seine Überzeugung genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, wodurch keine vernünftig begründeten Zweifel mehr möglich sind (vgl. stellvertretend für die nahezu gesamte Kommentarliteratur Meyer-Goßner § 261 Rn 2).
Hinzu kommt: nur wenige Richter beherrschen leider die Grundsätze der Aussagepsychologie lege artis bzw. wenden diese an.
Denn die Nullhypothese „unterstellt, die Aussage sei unrichtig, welche Indikatoren ergeben sich im Aussagematerial, die diese Grundannahme widerlegen“ setzt voraus, dass der Richter das System der hypothesengeleiteten Glaubhaftigkeitsprüfung in die freie Beweiswürdigung integriert.
Stattdessen trifft man regelmäßig auf Strategien, wonach insbesondere nach solchen Anhaltspunkten im Aussagematerial gesucht wird, die die bereits vorgefasste Überzeugung der Glaubhaftigkeit der Belastungsaussage zum Nachteil des Angeklagten bestätigen. So werden Alternativhypothesen gerne übersehen und Fehlerquellen der Erinnerung oder in der Entstehung oder Entwicklung der Aussage ignoriert.
Freibrief zur Willkür also: Die richterliche Überzeugungsbildung bleibt als überwiegend subjektiver Prozess auch der Überprüfung durch die Revision unzugänglich, solange die Beweiswürdigung noch einigermaßen plausibel erscheint. Ist dies tatsächlich möglich?
Anforderungen des Bundesgerichtshofs
Glücklicherweise nicht ganz. Denn der BGH hat postuliert, dass die Glaubhaftigkeitsprüfung zunehmend strengeren Prüfungsmaßstäben in aussagepsychologischer Hinsicht unterliegt.
So werden seit Ende der 90er Jahre nach ständiger Rechtsprechung des BGH in Fallkonstellationen, in denen Aussage gegen Aussage steht, besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung in den Urteilsgründen gestellt.
Die richterliche Überzeugungsbildung ist damit ein Stück weit der Überprüfung in der Revision zugänglich.
Demnach gelten in der Konstellation Aussage-gegen-Aussage besondere Anforderungen an die Sachdarstellung und die Bewertung der Aussage des einzigen Belastungszeugen, mithin eine besonders sorgfältige Beweiswürdigung und Bestimmung des Beweiswertes der Belastungsaussage.
Konkret bedeutet dies: es muss eine genaue Aussageinhaltsanalyse, die Prüfung der Entstehungsgeschichte der Aussage, die Bewertung der Aussagemotive sowie die Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben des einzigen Belastungszeugen erfolgen (MüKoStPO/Miebach, 1. Aufl. 2016, StPO § 261 Rn. 230).
In Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, ist demnach eine besonders sorgfältige Gesamtwürdigung aller Umstände durch das Tatgericht erforderlich (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Februar 2014 - BGH Aktenzeichen 1STR70013 1 StR 700/13; Beschluss vom 10. Januar 2017 - BGH Aktenzeichen 2STR23516 2 StR 235/16).
Die Urteilsgründe müssen sonach erkennen lassen, dass das Gericht alle Umstände, welche die Entscheidung beeinflussen können, in seine Überlegungen einbezogen hat. Aus den Urteilsgründen muss sich ferner ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (vgl. Senat, Urteil vom 22. April 2015 - BGH Aktenzeichen 2STR35114 2 StR 351/14). Hierbei sind Gewicht und Zusammenspiel der einzelnen Indizien in einer Gesamtschau zu bewerten (vgl. Senat, Beschluss vom 20. Juli 2016 - BGH Aktenzeichen 2STR5916 2 StR 59/16; Beschluss vom 4. April 2017 - BGH Aktenzeichen 2STR40916 2 StR 409/16).
Die Grundsätze der besonderen Anforderung an die Beweiswürdigung in der Konstellation Aussage gegen Aussage gelten auch beim schweigenden Angeklagten. Auch hier ist gleichzeitig die Aussage des Belastungszeugen mit Blick auf weitere belastende Gesichtspunkte ausführlich zu erörtern und zu überprüfen.
Weiter liegt auch dann ein Fall von Aussage gegen Aussage mit den besonderen Anforderungen an die dargestellten besonderen Anforderungen in der Beweiswürdigung vor, wenn die Aussage des Angeklagten gegen die Aussagen von mehreren Zeugen steht, die aus demselben "Lager" stammen, wie etwa 4 Polizeibeamte.
Erfolgreiche Revision gegen ein Urteil des Landgerichts Kassel
So hat in jüngster Zeit etwa der 2. Senat (Beschluss vom 20.04.2017 - BGH Aktenzeichen 2 StR 346/16) zur Beweiswürdigung bei der Situation "Aussage gegen Aussage" bestimmt: „In Fällen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, sind die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert, sondern deren Gewicht und Zusammenspiel in einer besonders sorgfältigen Gesamtwürdigung zu bewerten“.
Insgesamt hatte der BGH auf dieser Grundlage ein Urteil des Landgerichts Kassel wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes aufgehoben und die Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Damit hatte Revision des Angeklagten mit der Sachrüge Erfolg. Konkret hatte die –einzige- Belastungszeugin bekundet, dass der Angeklagte, ihr Halbbruder, zwei sexuelle Übergriffe zu ihrem Nachteil - seinerzeit als 11-Jährige – begangen habe. So habe er sie unter der Bekleidung an der Brust gestreichelt und sei sodann mit einem Finger in ihre Scheide eingedrungen. Wenige Wochen später sei er mit seinem Glied in ihre Scheide eingedrungen.
Das Landgericht Kassel hat seine Überzeugung von der Täterschaft des die Taten bestreitenden Angeklagten auf die Angaben der Zeugin - seiner Halbschwester- gestützt.
Nach Auffassung des BGH hielt indes die Beweiswürdigung des Landgerichts der sachlich-rechtlichen Überprüfung nicht stand, so dass das Urteil zwingend aufzuheben war.
Den hiernach an die Beweiswürdigung zu stellenden besonderen Anforderungen wurde das angefochtene Urteil nicht gerecht.
So hatte das Landgericht seine Überzeugung der Glaubhaftigkeit der Belastungsaussage insbesondere damit begründet, dass deren Angaben ein hohes Maß an Konstanz aufwiesen.
Verwunderlich – denn die Zeugin hatte erst in ihren weiteren Vernehmungen den zweiten angeblichen Übergriff erwähnt.
Ein Umstand, welches das Landgericht nicht als Ausdruck von Inkonstanz, sondern vielmehr „bewusster Aussagezurückhaltung“ bezeichnete. Auch die weiteren Erinnerungslücken der Zeugin wertete das Landgericht nicht. Vielmehr sprächen diese Erinnerungslücken für die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben anstatt als Inkonstanzen.
Weiter unterblieb die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Aussageentstehung und der Entwicklungsgeschichte der Aussage, mithin, wie sich die Angaben der Zeugin zu den einzelnen Vorwürfen im Verlaufe des Verfahrens entwickelt haben.
Grundsätzlich gilt aber: Die Anfechtung eines Urteils kostet Kraft und Geld. Um es nicht so weit kommen zu lassen, ist die frühzeitige Konsultation eines Anwalts für Sexualstrafrecht mehr als nur geboten.