Wormser Prozesse
In der Aussagepsychologie und meiner Arbeit als Kindesmissbrauch Anwalt sind sie zum festen Begriff geworden: die damaligen Wormer Prozesse. Es gab sie wirklich; in der jüngeren Rechtsgeschichte gelten sie als die drei größten Missbrauchsprozesse. Konkret bezeichnet der Begriff Wormser Prozesse damit drei miteinander zusammenhängende Gerichtsverfahren vor dem Landgericht Mainz in den Jahren 1993 bis 1997. Alle Angeklagten der angeblichen Sexualstraftaten wurden letztendlich vor dem Landgericht Mainz freigesprochen. Zwei der drei Prozesse fanden unter dem Vorsitz des Vorsitzenden Richters am Landgericht Mainz Lorenz statt – einem nach meiner persönlichen Auffassung bis heute objektivsten und besten Vorsitzenden der Bundesrepublik.
Anlass des ersten Prozesses: Vorwurf sexueller Missbrauch
Anlass für den ersten Prozess war der Vorwurf sexueller Missbrauch, den eine Kindsmutter in dem mit der Ehescheidung einhergehenden Streit um das Sorgerecht und Umgangsrecht über die ehegemeinsamen Kinder gegen ihren Mann erhob. Der Vorwurf und damit zusammenhängende viele weitere Vorwürfe über angebliche Sexualstraftaten erwies sich nach langem Prozess als nicht haltbar. Die besondere Bedeutung der sog. Wormser Prozesse besteht darin, dass sie die längst überfällige endgültige Anerkennung der forensischen Aussagepsychologie in den Strafverfahren wegen eines Sexualdelikts brachten:
Vorverurteilung leider auch heute noch
Dies in einem Klima, in dem die Beschuldigten bzw. Angeklagten in der öffentlichen Meinung bereits längst und zu Unrecht als ‚Kinderschänder‘ vorverurteilt waren. Und, wie noch heute immer wieder zu beobachten, wirkten auch in den Zeiten der Wormser Prozesse Jugendamt und Opferhilfevereine zusammen, wenn es darum ging, die entsprechenden Vorurteile und Vorverurteilungen aufrecht zu erhalten. Dementsprechend wurden – und werden- insbesondere mögliche natürliche Ursachen für diverse Verletzungen der Kinder nicht einmal als Möglichkeit bedacht. Sondern vielmehr als Bestätigung sexuellen Missbrauchs gedeutet.
Keine objektiven Beweise
Wie heute fehlten jegliche objektive Beweise wie etwa die bei Hausdurchsuchungen aufzufinden erhofften klare Hinweise auf den angeblichen sexuellen Missbrauch von Kindern wie etwa Kinderpornographie. Damit blieb, wie es in Sexualstrafverfahren eben nun einmal regelmäßig der Fall ist, einziges Beweismittel die jeweilige Aussage des angeblich sexuell missbrauchten Kindes.
Aussage einziges Beweismittel
Basierte die gesamte Beweislage über sexuellen Missbrauch damit auf der jeweiligen Aussage des angeblich sexuell missbrauchten Kindes, dient diese damit regelmäßig als alleinige Urteilsgrundlage bei einer Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs. Demnach kommt ihr naturgemäß eine allentscheidende Bedeutung zu. So dass es mehr als überfällig war, an die Prüfung der Glaubhaftigkeit dieser Aussage auch besondere Anforderungen zu stellen.
Manipulationen in der Aussage aufdecken
Aufgabe und Leistung der forensischen Aussagepsychologie war damit, fehlerhafte und damit suggestive Befragungsmethoden durch ihrerseits von dem Realitätsgehalt tatsächlich geschehen sexuellen Missbrauchs überzeugten Vernehmungspersonen aufzudecken. Ebenso die von diesen angewandten Fragestellungen mit impliziter Antwort und Befragung, Märchenerzählungen und Verwendung anatomischer korrekter Puppen. Und die durch suggestive Befragungsmethoden zustande gekommenen Manipulation, Konfabulation und Erinnerungsverfälschung in der Aussage des jeweiligen kindlichen Zeugen als solche auch gutachterlich zu erklären.
Die Wende
Damit führten die Wormser Prozesse entscheidend zu einer Wende bei der juristischen Bewertung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen. Insbesondere unter dem Einfluss der Wormser Prozesse legte der BGH in seinem berühmten Urteil von 1999 -BGH, 1 StR 618/98, Urteil v. 30.07.1999- die Mindestanforderungen an strafprozessuale Glaubhaftigkeitsgutachten fest.
BGHSt 45, 164 – Die BGH-Entscheidung vom 30.07.1999: BGH 1 StR 618/98 - Urteil v. 30. Juli 1999 (LG Ansbach)
Das richtungsweisende BGH-Urteil (BGHSt 45, 164) begleitet mich maßgeblich bei meiner Arbeit als Kindesmissbrauch Anwalt und soll deshalb in diesem Beitrag Erwähnung finden. Anlass der BGH-Entscheidung vom 30.07.1999 war die Revision eines Angeklagten gegen ein Urteil des Landgerichts Ansbach vom 14.07.1998. Das Landgericht hatte den Mann wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in neun Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Mangelhaftes Gutachten zur Glaubhaftigkeit
Das Urteil hatte sich auf ein fehlerhaftes und unzureichendes Glaubhaftigkeitsgutachten zur Glaubhaftigkeit der Aussage der 14-jährigen Belastungszeugin über das angebliche Missbrauchsgeschehen gestützt. In diesem Glaubhaftigkeitsgutachten war die Verfasserin - eine Dipl.-Psychologin - zu dem fehlerhaften Ergebnis gelangt, dass die Aussage der Zeugin glaubhaft sei; die Aussage der Zeugin über angeblichen sexuellen Missbrauch also über einen realen Erlebnishintergrund verfüge. Gleichzeitig hatte das Gericht den auf die Einholung eines weiteren Glaubhaftigkeitsgutachten gerichteten Beweisantrag der Verteidigung zu Unrecht abgelehnt.
Unzureichende Begründung des Ablehnungsbeschlusses
Der BGH befand den Gerichtsbeschluss, mit welchem der Antrag der Verteidigung auf Einholung eines weiteren Glaubhaftigkeitsgutachtens abgelehnt wurde, in seiner Begründung als rechtsfehlerhaft, da dieser keine hinreichende Begründung enthielt. Denn um den Anforderungen des BGH zu genügen, hätte der Ablehnungsbeschluss den Verfahrensbeteiligten und dem Revisionsgericht eine Nachprüfung ermöglichen müssen, da in diesem Fall die Verteidigung konkrete Einwendungen gegen das Erstgutachten erhoben hatte.
Revision erfolgreich!
Demnach hat der BGH auf die Revision des Angeklagten hin das Urteil des Landgerichts Ansbach vom 14. Juli 1998 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Revision des Angeklagten mit einer Verfahrensrüge - Verletzung des § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO durch fehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags auf Einholung eines weiteren aussagepsychologischen Gutachtens- erfolgreich, ohne dass es einer weiteren Sachrüge bedurfte. Auf der fehlerhaften Ablehnung des Beweisbeschlusses beruhte das Urteil auch, sodass es im Ergebnis aufzuheben und an eine andere Kammer des Landgerichts zurückzuverweisen war.
Weiter stellte der BGH in dieser Entscheidung konkrete Anforderungen an die Mindeststandards aussagepsychologischer Gutachten. Dies insbesondere zum aussagepsychologischen Procedere in der Beurteilung möglicherweise fremdsuggerierten Angaben speziell bei kindlichen Zeugen. Denn gerade bei kindlichen Zeugen besteht die Gefahr, dass diese unbewusst ihre Angaben entgegen ihrer eigenen Erinnerung verändern. Dies, um den von ihnen angenommenen Erwartungen des sie befragenden Erwachsenen zu entsprechen. Oder, um sich an dessen – vermuteter – größerer Kompetenz auszurichten.
Anforderungen an die Urteilsgründe
Nach Auffassung des BGH bedürfe es hierbei zwar einer ins Einzelne gehenden Darstellung von Konzeption, Durchführung und Ergebnissen der erfolgten Begutachtung in den Urteilsgründen nicht. Vielmehr reiche es aus, dass die diesbezüglichen Ausführungen die „wesentlichen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen in einer Weise enthalten, die zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit und sonstigen Rechtsfehlerfreiheit erforderlich sind“, so die Leitsätze des Bearbeiters.
Im Einzelnen:
Die Anklage der Staatsanwaltschaft hatte dem Angeklagten und späteren Revisionsführer vorgeworfen, er habe die Belastungszeugin – seine Adoptivtochter- über einen Zeitraum von etwa 8 Jahren sexuell missbraucht. Das Landgericht hatte ein aussagepsychologisches Gutachten zur Beurteilung der Angaben der Zeugin bei einer Diplom-Psychologin als aussagepsychologische Sachverständige in Auftrag gegeben. Nach entsprechender Exploration der Zeugin gelangte die Sachverständige zu dem Ergebnis, dass die Angaben der Zeugin glaubhaft seien; sie also in ihrer Belastungsaussage über tatsächlich von ihr Erlebtes berichte.
Indes rügte die Verteidigung des Angeklagten die Inhalte des Sachverständigengutachtens. Konkret bemängelte die Verteidigung insbesondere, dass das seitens des Gerichts eingeholte Gutachten "in der theoretischen Grundlegung und der Planung und Durchführung der psychologischen Untersuchung" mangelhaft sei und damit nicht dem Stand der Wissenschaft entspreche. So hatte die Sachverständige etwa Verbal- und Fantasieproben von der Zeugin erhoben und Anknüpfungstatsachen nicht benannt.
Zur näheren Begründung legte die Verteidigung eine schriftliche Stellungnahme des Leiters der Arbeitsstelle für Forensische Psychologie der Universität Dortmund vor und bezeichnete die geltend gemachten Mängel unter Bezugnahme diese.Das Landgericht hingegen lehnte den Beweisantrag der Verteidigung unter Verneinung der Voraussetzungen des § 244 Abs. 4 Satz 2 2. Halbsatz StPO ab. Die Ablehnungsentscheidung begründete es mit der dem Gericht bekannten Sachkompetenz der gerichtlich beauftragten Sachverständigen; insbesondere eigener richterlicher Überzeugung. Eine vorherige weitere gerichtliche Anhörung der Sachverständigen erfolgte nicht; insbesondere setzte sich das Landgericht in seinem Ablehnungsbeschluss nicht mit den von der Verteidigung geltend gemachten Mängeln des Gutachtens auseinander. Rechtsfehlerhaft – wie der BGH feststellte. Denn: indem das Landgericht sich in seinem Ablehnungsbeschluss nicht in der erforderlichen Weise, mithin einzig die lapidare Begründung, dass es sich bei der Sachverständigen um eine forensisch erfahrene und kompetente Psychologin handele, anführte, und sich mit den vom Angeklagten behaupteten Mängeln des Gutachtens in keiner Weise auseinandersetzte, entspricht diese Vorgehensweise nach Auffassung des BGH nicht den Anforderungen des § 244 Abs. 4 Satz 2 und Abs. 6 StPO.
Diese knappe Begründung hätte indes nur dann ausgereicht, wenn die Verteidigung die Anhörung eines weiteren Sachverständigen beantragt hätte, ohne die Angriffspunkte am Erstgutachten näher zu begründen. Anders hier. Denn hier hatte die Verteidigung die Mängel des Erstgutachtens unter Zuhilfenahme eines von ihr beauftragten Aussagepsychologen dezidiert belegt. So bestimmt § 244, Beweisaufnahme; Untersuchungsgrundsatz; Ablehnung von Beweisanträgen in Abs.4:
(4) 1Ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Sachverständigen kann, soweit nichts anderes bestimmt ist, auch abgelehnt werden, wenn das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt. 2Die Anhörung eines weiteren Sachverständigen kann auch dann abgelehnt werden, wenn durch das frühere Gutachten das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist; dies gilt nicht, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn das Gutachten Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen eines früheren Gutachters überlegen erscheinen.
Mindeststandards von Gutachten: Glaubhaftigkeit statt Glaubwürdigkeit
Gegenstand einer aussagepsychologischen Begutachtung ist einzig die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage. Mithin die Frage, ob die Aussage des Zeugen über ein bestimmtes Geschehen einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entspricht, also wahr ist. Hingegen ist die allgemeine Glaubwürdigkeit des Untersuchten für die aussagepsychologische Beurteilung irrelevant.
Mindeststandard: aussagepsychologische Begutachtung nur durch hypothesengeleitete Verifizierung und Spezifiierung der Nullhypothese
Methodisch geht die Aussagepsychologie bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage von der sog. Nullhypothese aus. D.h., die Ausgangsthese lautet, ‚die Aussage ist unwahr‘. Diese Vorgehensweise wurde nunmehr durch das hier gegenständliche BGH-Urteil nunmehr auch höchstrichterlich anerkannt. In einem weiteren Schritt werden sodann weitere Hypothesen, bspw. etwa: ‚bei der Aussage handelt es sich um eine bewusste Falschaussage‘ oder ‚die Aussage beruht auf Suggestion‘. Diese weiteren Hypothesen dienen der Verifizierung der Nullhypothese. Erst dann, wenn sich sämtliche weiteren Hypothesen verneinen, also verwerfen lassen, sich also keine Fakten dafür finden lassen, weshalb die Aussage bspw. eine bewusste Falschaussage sein könnte oder auf Suggestion beruht, gilt die Alternativhypothese, wonach es sich um eine wahre Aussage handelt.
Weitere Hypothesen zur Verifizierung und Spezifizierung der Nullhypothese
Neben den Hypothesen ‚bei der Aussage handelt es sich um eine bewusste Falschaussage‘ oder ‚die Aussage beruht auf Suggestion‘, sog. Suggestionshypothese ist insbesondere die ‚Hypothese der unzutreffenden Mehrbelastung‘, ‚Hypothese des konstruktiven Schließens von Erinnerungslücken‘, ‚Hypothese über Parallelerlebnis‘ sowie die sog. ‚Rache-Hypothese‘.
Häufig bei Aussagen von Kindern: Suggestion
Auto- oder (bewusst) fremdsuggerierte Angaben kindlicher Zeugen sind der Regelfall. Denn gerade Kinder verändern Aussageinhalte unbewusst ihrer eigenen Erinnerung zuwider, um den von ihnen angenommenen Erwartungen des sie befragenden Erwachsenen zu entsprechen. Gleichzeitig verfügt der sie befragende Erwachsene in ihren Augen über eine größere Kompetenz als das Kind selbst. Demnach versucht dieses unbewusst, sich an dessen vermuteter größerer Kompetenz auszurichten.
Konstruktives Schließen vorhandener Erinnerungslücken; Hypothese unzutreffender Mehrbelastung
Weiter neigen viele Zeugen, insbesondere auch kindliche Zeugen, dazu, Erinnerungslücken „konstruktiv“ zu schließen. Mit der Folge einer unzutreffenden Mehrbelastung des Beschuldigten bzw. Angeklagten. Beobachten lässt sich dies insbesondere dann, wenn der (kindliche) Zeuge die Tatvorwürfe mehrfach in unterschiedlichen Gesprächssituationen gegenüber von ihm als kompetenter eingestuften Aussageempfängern schildert. Ein völlig natürlicher Vorgang. Denn: im Rahmen der Gespräche und Befragungen werden dem Zeugen durch die jeweiligen Reaktionen der jeweiligen Aussageempfänger Informationen vermittelt. Ggf. natürlich auch unzutreffende Informationen. Diese werden von ihm nunmehr und unbewusst als eigene Erinnerung wiedergegeben.
Unterscheidung wahrer und bewusst unwahrer Aussagen
Eigentlich liegt es auf der Hand: die Schilderung eines wahren und der eines bewusst unwahren Geschehens erfordert jeweils völlig unterschiedliche geistige Leistungen des Aussagenden. Denn: wird ein Bericht aus dem Gedächtnis rekonstruiert, erfordert dies im Wesentlichen keine sonderliche geistige Leistung. Man hat es ja tatsächlich erlebt. Anders bei der bewusst falschen Aussage. Hier konstruiert die lügende Person ihre Aussage aus ihrem gespeicherten Allgemeinwissen. Das Erfinden und Aufrechterhalten einer Aussage über ein (komplexes) Geschehen ohne eigene Wahrnehmungsgrundlage zu erfinden, erfordert sonach eine weitaus höhere geistige Leistung.
Indikatoren wahrer Aussagen: Realkennzeichen
Realkennzeichen als sog. aussageimmanente Qualitätsmerkmale dienen zur Unterscheidung wahrer und bewusst unwahrer Aussagen und damit zur Bestimmung der Aussagequalität im Rahmen der Inhaltorientierten Aussageanalyse. Dabei dient das gehäufte Auftreten von Realkennzeichen als Indikator einer Aussage über tatsächlich Erlebtes. Sie haben Indizwert für die Glaubhaftigkeit der zu beurteilenden Aussage, wenn diese aus der Gesamtheit aller Indikatoren abgeleitet wird. Zu den sog. Realkennzeichen zählen insb. der Bericht über scheinbar nebensächliche Details, sog. abgebrochene Handlungsketten, unerwarteter Komplikationen, phänomengemäße Schilderungen unverstandener Handlungselemente; logische Konsistenz, quantitativer Detailreichtum, raum-zeitliche Verknüpfungen, Schilderung ausgefallener Einzelheiten und psychischer Vorgänge, Entlastung des Beschuldigten, Selbstbelastung und Einräumen von Erinnerungslücken. Es ist empirisch anerkannt, dass das gehäufte Auftreten von Realkennzeichen in einer Aussage als Hinweis auf die Glaubhaftigkeit der Angaben gilt.
Merkmalsorientierten Aussageanalyse, Konstanzanalyse
Ergänzend zur inhaltsorientierten Aussageanalyse steht die sog. merkmalsorientierte Inhaltsanalyse. Während die Inhaltsanalyse sich mit der Qualität lediglich einer Aussage befasst, geht es bei der Konstanzanalyse um das von einer Person gezeigte Aussageverhalten insgesamt. Die Konstanzanalyse bezieht sich also auf aussageübergreifende Qualitätsmerkmale, die sich aus dem Vergleich von Angaben über denselben Sachverhalt zu unterschiedlichen Zeitpunkten ergeben. Werden Zeugen etwa mehrfach zu demselben Themenkomplex vernommen, birgt dies also auch immense Vorteile. Denn: auf diese Weise ist ein Aussagevergleich im Hinblick auf Übereinstimmungen, Widersprüche, Ergänzungen und Auslassungen möglich, sog. Konstanzanalyse.
Ergänzungen der Aussageanalyse (Inhaltsanalyse und Konstanzanalyse): Fehlerquellenanalyse und Kompetenzanalyse: Aussagegenese
Regelmäßig reicht das Ergebnis der Aussageanalyse, also der Inhalts- und Konstanzanalyse, nicht aus, Glaubhaftigkeit oder fehlende Glaubhaftigkeit einer Aussage hinreichend zu beurteilen. Vielmehr bedarf es der Absicherung des mit den Methoden der Aussageanalyse gefundenen Ergebnisses durch die sog. Kompetenzanalyse und Aussagegenese.
Fehlerquellenanalyse I: Kompetenzanalyse; Sexualanamnese
Die Kompetenzanalyse wirft die Frage auf, ob die Aussagequalität durch sog. Parallelerlebnisse oder reine Erfindung erklärbar sein könnte. Erfindungskompetenz der aussagenden Person setzt deren entsprechende intellektuellen Leistungsfähigkeit voraus. Ferner spezifische Kenntnisse über den dem Vorwurf zugrunde liegenden Sachverhalt, hier insbesondere also sexualbezogenen Kenntnisse und Erfahrungen zumindest bei Zeugen, bei denen entsprechendes Wissen nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann. Im Rahmen der Sexualanamnese ist damit zu prüfen, ob ein Zeuge bzw. eine Zeugin Kenntnisse über unmittelbare sexuelle Verhaltensweisen hatte.
Fehlerquellenanalyse II: Aussagegenese
Im Rahmen der Aussagegenese ist die fremdanamnestischen Befragung Dritter vorzunehmen, denen gegenüber der Belastungszeuge über den Tatvorwurf gesprochen hat. Denn: ihre Kompetenz und Reaktionen auf die Aussage des Zeugen beeinflusst naturgemäß wiederum dessen weitere Aussage.
Fehlerquellenanalyse III: Motivationsanalyse
Bei der Motivationsanalyse geht es um die Feststellung möglicher Motive für eine unzutreffende Belastung des Beschuldigten durch einen Zeugen. Hierzu sind die Beziehung zwischen dem Zeugen und dem von ihm Beschuldigten zu analysieren. Ferner die Frage, welche Konsequenzen der erhobene Vorwurf für die Beteiligten oder für Dritte nach sich ziehen kann.
Fehlerquellenanalyse IV: Besonderheiten der Persönlichkeitsentwicklung
Bei der Analyse von Besonderheiten der Persönlichkeitsentwicklung des Untersuchten werden insbesondere Selbstwertprobleme, gesteigertes Geltungsbedürfnis und emotionale Vernachlässigung untersucht.
Besonderheit: auf Suggestion beruhende Angaben
Berichtet der Aussagende über einen Sachverhalt, den er selbst zwar nicht tatsächlich erlebt hat, subjektiv aber – infolge Suggestion – davon überzeugt ist, das fragliche Geschehen tatsächlich erlebt zu haben. Demnach gleicht sein Bericht über einen suggerierten Sachverhalt in der Aussagequalität völlig dem Bericht über tatsächlich Erlebtes. Denn: der Zeuge geht ja auch irrtümlich davon aus, über tatsächlich Erlebtes zu berichten. Folge: Die Realkennzeichen versagen bei der Unterscheidung wahrer und suggerierter Aussagen. Suggerierte Aussagen sind daher von wahren Aussagen wesentlich schwieriger zu unterscheiden als wahre von unwahren Aussagen:
Realkennzeichen versagen bei der Unterscheidung wahrer und suggerierter Aussagen
Allerdings sind die Realkennzeichen ungeeignet, wenn es um die Unterscheidung zwischen einer wahren und einer suggerierten Aussage geht. Vielmehr unterscheiden sich erlebnisbasierte und suggerierte Aussagen nicht in ihrer Qualität.
Durch Suggestion verursachte Aussagen; Suggestibilität
Denn bei durch Suggestion verursachten Angaben hält der Aussagende seine Angaben subjektiv für wahr. Subjektiv berichtet er demnach ‚aus dem Gedächtnis‘; muss also keine geistige Anstrengung auf die sorgfältige Aufrechterhaltung einer Lüge aufbringen. So also etwa das Kind, das seine – objektiv unwahre Aussage- unbewusst auf die Erwartungen des vernehmenden Erwachsenen ausgerichtet hat und sie damit subjektiv für wahr hält.
Suggestibilität
Suggestibilität bezeichnet die Empfänglichkeit, suggestiv übermittelte Informationen über bestimmte Sachverhalte in die das eigene Wahrnehmen, Denken und Erinnern zu integrieren und ggf. als Selbsterlebtes und als eigene Erfahrungen mitzuteilen.
Begünstigende Faktoren für Suggestibilität
Begünstigend für Suggestibilität sind insbesondere die Beziehung zum Suggestor und die psychische Befindlichkeit des Zeugen; Wissen, Erwartung, Aufmerksamkeit und Motivation des Zeugen; ferner suggestive Fragetechniken, insbesondere sogenannte „Aufdeckungsarbeit“. So werden Erwachsene insbesondere von noch kleineren Kindern wie Kindern im Vorschulalter als „Autoritätspersonen“ und kompetent eingestuft. Selbst wenn der Erwachsene keine besonderen suggestiven Fragen oder Untersuchungstechniken angewendet, ist das Kind sonach häufig bemüht, die tatsächlichen oder von ihm angenommenen Erwartungen des befragenden Erwachsenen durch ein entsprechendes Aussageverhalten zu erfüllen.
„Aufdeckungsarbeit“
Befragt der Erwachsene dann auch noch suggestiv, macht dies die Aussage des Kindes regelmäßig nicht mehr verwertbar. Zur Unterscheidung wahrer von auf Suggestion beruhender Aussagen bleibt sonach lediglich – und eingeschränkt- das Instrumentarium der Fehlerquellenanalyse – mithin Kompetenzanalyse; Sexualanamnese; Aussagegenese, Motivationsanalyse und Besonderheiten der Persönlichkeitsentwicklung.
Induktion von Erinnerung an ein nicht stattgefundenes Ereignis; „Verdrängte Erinnerungen“
Insbesondere das Phänomen verdrängter Erinnerungen an insbesondere vermeintliche traumatische Erfahrungen der Kindheit wie sexuelle Missbrauchserfahrungen in Therapien zeigt die Wirkungsweise des Zusammenspiels suggestiver Faktoren deutlich: So besteht bereits suggestives Potenzial in der Therapiesituation in der hohen Glaubwürdigkeit des Therapeuten aus Sicht des Klienten aufgrund seiner Position hat. Hinzu kommt die grundsätzliche Bereitschaft des Klienten, befindet sich dieser doch aufgrund seiner psychischen Störung in einer psychosozialen Ausnahmesituation mit damit naturgemäß einhergehender hoher Destabilisierung. Gleichzeitig bietet die Annahme des in der Kindheit vermeintlich erlebten sexuellen Missbrauchs dem Klienten und dem Therapeuten eine umfassende Erklärung für die aktuelle Krisensituation des Klienten.
Was ist eine Schutzschrift?
Die Schutzschrift stellt ein effektives Mittel der Verteidigung im Ermittlungsverfahren dar. In Reaktion auf eine Anzeige wegen sexuellem Übergriff, Vergewaltigung, sexueller Nötigung oder sexuellem Missbrauch kann die Schutzschrift eines Anwalts für Sexualstrafrecht das Zünglein an der Waage sein und darüber entscheiden, ob ein Verfügungsantrag gestellt wird oder nicht.
Das Ermittlungsverfahren bezeichnet den zwischen Strafanzeige und Anklageschrift liegenden Zeitraum. Das Zwischenverfahren bezeichnet den Zeitraum zwischen der Anklageschrift und der Eröffnung des Hauptverfahrens.
Die Schutzschrift im Ermittlungsverfahren dient dem Ziel, für Sie die Einstellung des gegen Sie gerichteten Verfahrens zu erreichen. Und damit zu vermeiden, dass die Staatsanwaltschaft überhaupt erst Anklage gegen Sie erhebt.
Denn die Erhebung der Anklage wiederum würde ein öffentliches Hauptverfahren, in dem Sie als Angeklagter bezeichnet würden, bedeuten. In Anbetracht der geringen Freispruchquote (unter 3 %) ein gefährlicher Weg.
In der Schutzschrift legen wir daher unsere Argumente, weshalb die gegen Sie erhobenen Vorwürfe falsch sind, gegenüber der Staatsanwaltschaft dar.
Ich bin unschuldig. Warum dann Geld in eine Schutzschrift investieren?
Dieser Gedanke ist mehr als verständlich. Leider aber auch fatal.
Denn: die Staatsanwaltschaft kennt Sie, Ihre Persönlichkeit und die Gründe, weshalb der gegen Sie erhobene Vorwurf unzutreffend ist, nicht. In einer Schutzschrift können Sie gemeinsam mit Ihrem Anwalt diesen Mangel beheben und plausibel darlegen, warum die Vorwürfe nicht gerechtfertigt sind.
Verzichten Sie auf diese frühe Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, ist die Gefahr, dass Anklage gegen Sie erhoben wird, weitaus größer. Nutzen Sie die wertvolle Möglichkeit, Ihre Sicht der Dinge in der Schutzschrift zu verdeutlichen. Die einseitige Information der Belastungsaussage kann Sie im schlimmsten Fall Ihre Freiheit kosten.
Polizeiliche Vorladung ersetzt Schutzschrift?
Nun besteht nach dem Gesetz natürlich die Möglichkeit, dass Sie der polizeilichen Vorladung folgen und gegenüber der Polizei erklären, weshalb die gegen Sie erhobenen Vorwürfe unzutreffend sind. Hüten Sie sich allerdings davor, die polizeiliche Vorladung als Alternative zur Schutzschrift zu sehen!
Sie kennen die Belastungsaussage zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Vielmehr ist diese der Akteneinsicht – über einen Anwalt- vorbehalten.
Hinzu kommt: seit etlichen Jahren herrscht insbesondere bei der Erhebung von Vorwürfen im Sexualstrafrecht ein Klima zunehmender „Opfereuphorie“. Dies beginnt damit, dass die Person, die eine Anzeige wegen einer Sexualstraftat gegen Sie erhebt, bereits ab Anzeigeerhebung oft nicht neutral als Zeugin, sondern als „Geschädigte“ bezeichnet wird. Gleichzeitig werden Sie umgehend als „Beschuldigter“ geführt. Dass es sich bei der im Raum stehenden Beschuldigung ebenso um eine Falschaussage handeln kann, wird bereits zu diesem Zeitpunkt nahezu ausgeblendet – Ihre Behandlung gleich nun schon der eines Straftäters.
Leider mache ich im Zuge meiner Verteidigertätigkeit auch immer wieder die Erfahrung, dass Vernehmungsbeamte unter dem Eindruck einer häufig tränenreichen sog. „Geschädigtenvernehmung“ eher versucht sind, der die Strafanzeige gegen Sie erstattenden Person – anstatt Ihnen – zu glauben.
Diese Voreingenommenheit kann zu nicht sachgerechten Protokollierungen führen, zumal das Wortprotokoll in polizeilichen Vernehmungen zwar wünschenswert, aber nicht obligatorisch ist.
Daher ist auch davon abzuraten, der polizeilichen Vorladung Folge zu leisten.
Die Alternative zur Darstellung Ihrer Sichtweise im Rahmen der polizeilichen Vorladung als Beschuldigter ist die Schutzschrift.
Denn sie ermöglicht Ihnen, in Ruhe und nach Kenntnis der Belastungsaussage von Ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör Gebrauch zu machen und die gegen Sie erhobenen Vorwürfe richtigzustellen.
Übrigens kann die Bedeutung der Aussagetüchtigkeit der „Geschädigten“ für den Ausgang Ihres Ermittlungsverfahrens nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Erfahrung jedoch zeigt, dass die Vorwürfe trotz eindeutiger Unzulänglichkeiten inhaltlicher Art sowie im Bereich der kommunikativen Kompetenz der „Geschädigten“ allzu oft als Tatsachen beurteilt werden. Die Mittel der Aussagepsychologie sind für die Verteidigung die wichtigste Möglichkeit, Zeugenaussagen auf Ihre Glaubhaftigkeit zu prüfen. Entsprechend wird diese Möglichkeit bereits im Zuge der Erstellung einer Schutzschrift wahrgenommen.
Kosten einer Schutzschrift
Sicherlich, die Abfassung einer Schutzschrift kostet Geld.
Indessen kostet eine Hauptverhandlung (und v.a. die Revision bei Verurteilung) vor Gericht wesentlich mehr Geld als eine Schutzschrift im Ermittlungsverfahren.
Hinzu kommen Schmerzensgeldforderungen der vermeintlich Geschädigten sowie die Verfahrenskosten. Das kann uferlos werden. Ganz zu schweigen von der emotionalen und nervlichen Beeinträchtigung sowie gesellschaftlichen und beruflichen Einbußen, die eine Anklageerhebung mit sich bringen würde. Sie haben Angst vor einer Anklage? Nehmen Sie die Möglichkeit wahr, eine Erstberatung bei einem spezialisierten Anwalt in Anspruch zu nehmen. Die Erfolgsaussichten, sich gegen eine Falschaussage sexueller Missbrauch zur Wehr zu setzen – ganz gleich, ob es sich dabei um absichtliche Falschaussagen oder unabsichtliche Falschaussagen handelt, sind gut, wenn Sie Ihre Chance nutzen.
Methodenkritisches Gutachten - welche Angriffspunkte bieten sich für die Verteidigung?
Methodenkritische Gutachten bieten sich für die Verteidigung insbesondere dann an, wenn das gerichtlich in Auftrag gegebene aussagepsychologische Gutachten für den Mandanten negativ war, d.h., wenn es der Belastungsaussage Glaubwürdigkeit attestiert.
Das von der Verteidigung in Auftrag gegebene methodenkritische Gutachten greift das für den Mandanten ungünstige (weil in ungerechtfertigter Weise die Glaubhaftigkeit der Belastungsaussage attestierendes) „Gerichtsgutachten“ an, indem es dessen Schwachstellen aufzeigt.
So bieten sich insbesondere folgende Angriffspunkte: das Fehlen der gesetzlichen Mindestanforderungen aussagepsychologischer Gutachten wie die Darstellung der Ausgangssituation nach Aktenlage; die Darlegung der Aussagepsychologische Fragestellungen, die Erläuterung der angewandten diagnostischen Maßnahmen, Erläuterung des Untersuchungsablaufs; Darstellung der Explorationsbefunde, insb. der Persönlichkeitsexploration unter dem Aspekt der Aussagetüchtigkeit, Glaubhaftigkeitserörterung, Darlegung der Inhaltlichen Beschaffenheit der Aussage, des motivationalen Umfelds der Aussage, der Entstehung der Aussage und der Entwicklung der Aussage im zeitlichen Verlauf.
Ferner, ob die eingesetzten Test- und Untersuchungsverfahren dem Stand aktueller Forschung entsprechen und durch die gebildeten Hypothesen indiziert sind.
Ebenso die Darstellung der Begutachtung unter den Kriterien
Anschaulichkeit, Verständlichkeit durch Benennung und Beschreibung der Anknüpfungs- und Befundtatsachen und Bezeichnung der vom Sachverständigen zugrunde gelegten Hypothesen.
Gute Angriffspunkte bieten hier regelmäßig diejenigen Erstgutachten, die Bericht und Befund inhaltlich sowie in ihrer äußeren Form nicht klar voneinander trennen.
„Gerichtsgutachten“ oft fehlerhaft!
Leider zeigt die Erfahrung, dass die von den Staatsanwaltschaften und Gerichten in Auftrag gegebenen Gutachten oft mangelhaft sind. So bestätigen sie oft unkritisch und ungerechtfertigt die Glaubhaftigkeit der Belastungsaussage durch ihrerseits suggestive Befragung.
Dem kann die Verteidigung „vorbeugen“, indem sie die aussagepsychologische Bewertung bereits in einem sehr frühen Verfahrensstadium selbst vornimmt.
Daneben haben wir die Möglichkeit, ein methodenkritisches Gutachten zu dem von Staatsanwaltschaft oder Gericht in Auftrag gegebenen Gutachtens einzuholen und dieses damit konstruktiv anzugreifen.