Cybergrooming im Strafrecht: Zur Verhältnismäßigkeit der Versuchsstrafbarkeit
In der heutigen digitalen Welt sind Kinder und Jugendliche zunehmend online und nutzen Social-Media-Plattformen, Chatrooms und Online-Videospiele. Diese digitale Präsenz birgt jedoch auch Risiken, darunter das sogenannte Cybergrooming. Der Begriff bezeichnet den gezielten Aufbau eines Vertrauensverhältnisses durch Erwachsene zu Minderjährigen im Internet mit dem Ziel, sie schließlich zu sexuellen Handlungen zu überreden oder diese vorzubereiten.
Mit dem Gesetzespaket zur Kinder- und Jugendpornografie von 2020 wurde der Tatbestand Cybergrooming im Strafrecht ausgeweitet. Die Gesetze rühren an den moralischen und juristischen Grenzen bisheriger Ermittlungsarbeit. Lesen Sie in diesem Blogbeitrag, was das im Detail bedeutet und wer besonders betroffen ist.
Was ist Cybergrooming genau?
Cybergrooming bezeichnet im Strafrecht die gezielte Anbahnung sexueller Kontakte durch Erwachsene mit einem Kind oder Jugendlichen über das Internet. Erwachsene nutzen hierfür verschiedene Methoden, um das Vertrauen der Minderjährigen zu gewinnen und sie emotional zu manipulieren. Dazu gehören:
- Freundschaft und Zuneigung vortäuschen
- Komplimente versenden und virtuelle Geschenke versprechen
- in die Interessen und Probleme des Kindes einfühlen
- persönliche Geheimnisse teilen, um eine scheinbare Intimität zu schaffen
Häufig geben sich die Täter in Fake-Profilen mit falschen Namen und Fotos als Gleichaltrige aus, um die Hemmschwelle zu senken. Während der Erstkontakt oft durch Likes, Kommentare oder in Videospielen durch virtuelle Geschenke entsteht, verlagern Erwachsene im Cybergrooming die Kommunikation schnell auf private Kanäle, um die Nachrichten sukzessive in eine private und intime Richtung zu lenken. Mit der Zeit fordern Täter freizügiges Bildmaterial oder bitten die vulnerablen Opfer, sich in Videochats zu entblößen. Teilweise schlagen sie sogar persönliche Treffen vor. Im Verlauf werden die erhaltenen Aufnahmen oft als Druckmittel verwendet, um wiederum weitere Handlungen der Minderjährigen erzwingen zu können.
§ 176b StGB: Vorbereitung des sexuellen Missbrauchs von Kindern
In Deutschland ist Cybergrooming gemäß § 176 Absatz 3 Strafgesetzbuch (StGB) als eine Begehungsform des sexuellen Missbrauchs von Kindern strafbar. Dieser Paragraph stellt es unter Strafe, wenn jemand durch Kommunikationsmittel wie das Internet versucht, sexuelle Handlungen an einem Kind von unter 14 Jahren vorzubereiten. Hierzu gehören auch die Vereinbarungen und Absprachen, die darauf abzielen, dass es zu einem Treffen zwischen dem Täter und dem Kind kommt.
Das Strafmaß für Cybergrooming kann variieren. Es wird mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. In schweren Fällen, insbesondere wenn es zu einem tatsächlichen Missbrauch kommt, können die Strafen deutlich höher ausfallen.
Versuchsstrafbarkeit von Cybergrooming
Seit 2020 wird nun schon der Versuch des Cybergrooming im Strafrecht festgeschrieben. So haben Ermittler künftig die Möglichkeit, im Internet als Lockvogel aufzutreten. Sie dürfen zu diesem Zweck digital erstellte Kinderpornos hochladen, um auf Online-Foren zugreifen zu können, die Neumitglieder nur zulassen, wenn diese ihrerseits Kinderpornografie teilen. Diente dies den Tätern bisher zum Beweis, es mit einem der „Ihren“ zu tun zu haben, kann diese Einlasssperre im Netz in Zukunft umgangen werden.
Mit § 176 Absatz 6 StGB gilt die Versuchsstrafbarkeit von Cybergrooming: Täter machen sich auch strafbar, wenn sie nur glauben, im Chat mit einem Kind zu kommunizieren — jedoch tatsächlich aber mit verdeckten Ermittlern oder den Eltern Kontakt haben: der sogenannte „untaugliche Versuch“.
Über Sinn und Verhältnismäßigkeit
Manche mögen vielleicht sagen: Das ist doch in Ordnung, der Schutz der Kinder geht über alles!
Die Gefahr dabei ist aber, dass hier eine gefährliche „Der-Zweck-heiligt-alle-Mittel“-Überzeugung Platz greift. Welche Folgen hat es, wenn der Staat selbst als Agent Provokateur auftritt und pornografisches Material zur Verbreitung herstellt? Er kann nicht ausschließen, dass von diesem Material weitere Gefährdung für Opfer ausgeht.
Für die Polizei wird das Hochladen zum moralischen Problem, denn damit bringt sie weiteres kinderpornografisches Material in Umlauf, das wiederum dazu anregen kann, dass noch mehr und noch drastischere Bilder und Filme erzeugt und geteilt werden. Dass man im Darknet, sozusagen als Eintrittskarte, inkriminiertes Material zur Verfügung stellen muss – ist so, ja. Aber dafür gab es ja auch bisher schon Ermittlungsmethoden des BKA, sodass der Staat nicht selbst als Lockvogel auftreten müsste.
Verschärfung nicht ohne Widerspruch
Kritiker wenden mit Recht ein: Es gebe bereits bestehende Regeln in der Gefahrenabwehr der Polizei, die nur nicht ausreichend genutzt würden. Oft werde Hinweisen nicht effektiv nachgegangen, auch aufgrund von Personalmangel. Konstantin von Notz, der Netz-Experte der Grünen sagt: „Wir brauchen dringend mehr Beamtinnen und Beamte der Polizei, die online tätig sind und die bestehenden Ermittlungsmöglichkeiten effektiv nutzen.“ Er habe „erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken" bei der Neuregelung von 2020. Den Versuch des Cybergroomings dem Strafrecht nach als Straftat zu definieren, sei eine „Vorverlagerung der Strafbarkeit“.¹
Widerspruch gab es auch im Bundestag zum Thema Cyber-Grooming. Bislang blieb es für ihn folgenlos, wenn ein Täter lediglich glaubt, auf ein Kind einzuwirken, tatsächlich aber mit einem Erwachsenen chattet, also möglicherweise mit einem verdeckten Ermittler. Mit der Änderung wird der staatliche Lockvogel sanktioniert und als rechtmäßig anerkannt, schon die Absicht einer Tat ist nun auch in diesen Fällen strafbar (Versuchsstrafbarkeit).
Pädophile sind besonders betroffen
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ja, der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch ist gerade im anonymen Netz enorm wichtig. Es sollte aber die Frage nach dem Sinn und der Verhältnismäßigkeit der Gesetzesänderung zum Cybergrooming im Strafrecht erlaubt sein, bzw. nach Strategien, die dem Problem der Pädophilie besser gerecht werden und seinen Kern treffen.
Das Gesetzespaket von 2020 folgt einem Denken, das den Pädophilen von vorneherein zum Monstrum und Scheusal erklärt. Diese Denkart ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Kaum ein Vergehen wird mehr tabuisiert und ihm mit mehr Abscheu und Widerwillen begegnet.
Sexualwissenschaftler wie Therapeuten weisen darauf hin – und dem kann ich mich aus meiner Praxis als Fachanwältin für Strafrecht und überzeugte Strafverteidigerin, spezialisiert auf Sexualdelikte, nur anschließen – dass gerade eine solche unreflektierte und hysterische Denkart gegenüber der Pädophilie dazu beiträgt, dass Pädophile für sich selbst und andere zum Problem und Gedanken zu sexuellen Handlungen werden.
Pädophilie ist komplexer als viele denken
Woher die Vorliebe für den kindlichen Körper rührt, ist noch immer ungeklärt. Es heißt, dass sowohl entwicklungsbiologische, psychische als auch soziale Faktoren an der Entstehung von Pädophilie beteiligt sind. Hingegen ist wissenschaftlich bewiesen, dass ein Pädophiler zwar nicht „geheilt“ werden, aber durchaus lernen kann, seine sexuelle Neigung zu kontrollieren. Der Sexualwissenschaftler Klaus Michael Beier von der Charité in Berlin sagt: „Eine Therapie kann den Betroffenen erwiesenermaßen dabei helfen ... und dazu beitragen, Missbrauch zu verhindern.“²
Untersuchungen zeigen, dass
- sich etwa sechs Prozent aller in Deutschland lebenden Personen zwischen 18 und 75 Jahren sexuell zu Kindern hingezogen fühlen,
- ein Prozent der Bevölkerung pädophile Neigungen hat — 250.000 Menschen wären das allein in Deutschland,
- in der Hauptsache Männer betroffen sind.
Das Stigma „Kinderschänder“
Aus meiner Tätigkeit als Strafverteidigerin und aufgrund jahrelanger und zahlreicher Bearbeitung von Verfahren und Anklagen wegen des Vorwurfes des sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie Besitz und Verbreitung von Kinderpornographie weiß ich: Die meisten Pädophilen führen in der Mehrzahl der Fälle ein verzweifeltes Dasein. Daran ändert auch eine Verschärfung des Tatbestands des Cybergrooming im Strafrecht nichts.
Sie fechten einen permanenten schmerzlichen Kampf mit sich selbst aus, bei dem die meisten von ihnen allein gelassen sind und sich schon aus Angst vor gesellschaftlicher Stigmatisierung in völliger emotionaler Isolation bewegen — was die Problematik nur verschärft. So könnten aus einer pädophilen Veranlagung weitaus weniger sexuelle Übergriffe auf Kinder und Jugendliche entstehen, wenn in der Öffentlichkeit und in den Medien anstelle diffuser Angst ein Klima vorhanden wäre, das dem Pädophilen Hilfe und Unterstützung zubilligt.
Viele Pädophile wollen sich helfen lassen, wagen aber oft nicht, diese Hilfe auch einzufordern. Es gibt Hilfsangebote wie das Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“ mit nachweislichem Erfolg, doch zu wenige können sie in Anspruch nehmen. Uwe Hartmann, als Sexualmediziner der Medizinischen Hochschule Hannover für das Projekt tätig, sagt:
"Viele Pädophile fühlen sich als Kinderschänder stigmatisiert. ... Sie sind gehemmt und ängstlich, weil sie wissen, dass die Mehrheit der Gesellschaft sie aufgrund ihrer sexuellen Neigung mit Sexualstraftätern gleichsetzt und dafür ausgrenzt." Und zwar auch, wenn sie noch gar nichts getan haben.³
Kontaktieren Sie michEs ist davon auszugehen: Nicht jeder, der pädophile Neigungen hat, ist automatisch ein „Kinderschänder“.
Die Gesetzesänderung, die nun schon den Versuch des Cybergrooming im Strafrecht unter Strafe stellt — auch, wenn gar kein Kind involviert war — muss dieses Gefühl der Hilflosigkeit verstärken. Mehr Offenheit und Vertrauen im Umgang mit der Pädophilie könnte hier sicher mehr helfen als eine drastische Verschärfung der Gesetze zu sexuellen Handlungen, die über das normale moralische Maß hinausgeht. Wie es das Präventionsnetzwerk beschreibt, kennzeichnet Pädophile der innere Widerspruch, dass sie Kinder mehr lieben, als ihnen selbst lieb ist.
Mit entsprechender Unterstützung können sie selbst es sein, die sich an der Ausübung ihrer Neigung durch strafbare sexuelle Handlungen hindern. Pädophile sind also erstens nicht per se Täter und „Kinderschänder“ und zweitens sind sie in der Regel gerade nicht die Produzenten der im Netz verbreiteten Kinder- und Jugendpornografie.
Kinderpornographie ist vor allem ein Geschäft
Vielmehr ist Kinder- und Jugendpornografie, anders als Cybergrooming, ein skrupelloses Geschäft, das gewerbsmäßig betrieben wird. Hinzu kommt: Viele Konsumenten sammeln kinderpornografisches Material aus Langeweile und Unachtsamkeit, mitunter auch aus bloßer Einfältigkeit auf ihren PCs – unter anderem, weil sie beim Herunterladen legaler Pornografie nicht darauf achteten, dass sich auch illegale Bilder, Videos oder Schriften darunter gemischt haben.
Das Problem dabei ist, dass auf diese Weise eine Nachfrage erzeugt wird, die die gewerbsmäßigen Banden auf den Plan ruft, die kinder- und jugendpornografisches Material produzieren, im Darknet geschäftsmäßig vertreiben und dafür rücksichtslos Kinder und Jugendliche oft aus prekären Verhältnissen rekrutieren. Der emotionale Schaden für die Opfer ist immens. Die Änderung des Gesetzes hat mit dieser katastrophalen Realität bedauerlicherweise wenig zu tun.
Meine Einschätzung als Rechtsanwältin
Tatbestand Cybergrooming laut Strafrecht: Zurück zu den — meiner Überzeugung als Anwältin für Sexualstrafrecht nach völlig zu Unrecht verschärften — Gesetzen von 2020. Diese sind bereits deswegen nicht erforderlich, weil sich ihr Ziel und Zweck wesentlich einfacher realisieren ließe: Insbesondere Eltern können schon einiges selbst tun, um ihre Kinder besser zu schützen. Es ist technisch einfach, zu differenzieren, was Kinder im Netz zu sehen bekommen und was nicht. Zugleich wäre es durchaus möglich und sinnvoll, die Auflagen gegenüber den Betreibern entsprechender Plattformen, was die Legitimation der User mittels technischer Möglichkeiten angeht, zu erhöhen. Digital erzeugte pornografische Bilder und die damit verbundenen Risiken sind also nicht erforderlich, um gegen Pädophilie wirksam vorzugehen, können allerdings das Problem verschärfen.
Generell Cybergrooming im Strafrecht unter Strafe zu stellen, vorverlagert die Strafbarkeit und kann Möglichkeiten und Chancen unterbinden, dem Problem der Pädophilie jenseits des Strafrechts zu begegnen. Die Strafverfolgung hat in einem solchen Fall also nicht tatsächlich eine Person im Visier, die reale Kontakte zu Kindern sucht und deren Handlungen es zu verhindern gilt.
Quellen:
1 Clara Lipkowski, Gesetzesänderung. Der Staat als Lockvogel, (Abruf: 12.09.2024)
https://www.sueddeutsche.de/politik/kindesmissbrauch-cybergrooming-bundestag-gesetz-1.4760925
2 Alina Schadwinkel, Pädophilie. Jede Therapie zählt, (Abruf: 12.09.2024)
https://www.zeit.de/wissen/2016-10/paedophilie-sexuelles-verlangen-kinder-missbrauch
3 Präventionsnetzwerk. Kein Täter werden (Abruf: 12.09.2024)
https://www.kein-taeter-werden.de