Lügde und die Folgen - Bundestag beschließt härtere Strafen für Kindesmissbrauch
Der Bundestag stuft den Missbrauch von Kindern sowie Besitz und Verbreitung von Kinderpornografie nach dem Vorfall in der Kleinstadt Lügde, als Verbrechen ein. Damit droht – sollte der Gesetzesentwurf erwartungsgemäß erfolgreich den Bundesrat passieren – bei Verurteilung eine Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe.
Darüber hinaus sollen die Befugnisse der Ermittlungsbehörden bei der Handy- oder Computerüberwachung im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch und Kinderpornographie erheblich ausgeweitet werden. Zudem sollen Verurteilungen wegen Kindesmissbrauch und Kinderpornographie, die lange oder sehr lange zurückliegen, künftig ebenfalls im erweiterten Führungszeugnis eingetragen werden.
Des Weiteren soll man sich durch Besitz von Sexpuppen, die wie Kinder aussehen strafbar machen. Mit Opferschutz lässt sich dies mangels tatsächlicher Opfer nicht begründen. Die Begründung, durch derartige Sexpuppen könnte sich jemand ja zu echten Taten ‚inspirieren‘ lassen, geht fehl. Denn eventuelle Korrelation ist nicht gleich Kausalität.
Strafverschärfung bei Kindesmissbrauch - die richtige Maßnahme?
Warum Strafverschärfung bei Kindesmissbrauch nichts anderes sind als Ausdruck des gesellschaftlichen und politischen Versagens. Es ist ein Mechanismus, der oft wieder kehrt: ein besonders erschreckender Fall – wie die Missbrauchsfälle in Münster, Lüdge und Bergisch Gladbach - wird aufgedeckt, Politik und Öffentlichkeit schreien auf. Einige fühlen sich berufen, die ganz harte Gangart zu fordern. Begründet werden die weiteren Verschärfungen dann damit, dass sich durch Internet, soziale Netzwerke und Onlinespiele mit Chatfunktion das Gefährdungspotenzial für Kinder sowohl in der virtuellen als auch in der realen Welt erhöht hat. Dies, indem es insbesondere durch die sich stets weiter entwickelnden Online-Möglichkeiten zunehmend erleichtert wird, aus sexuellen Motiven heraus den Kontakt zu Kindern und Jugendlichen herzustellen. So jetzt auch die Begründung im neuen Gesetzentwurf.
Ohne genau hinzusehen, was geschehen ist, wie man es hätte verhindern können und welche Maßnahmen tatsächlich zielführend sind, um Ereignisse wie die Missbrauchsfälle von Münster, Lügde und Bergisch Gladbach in Zukunft zu verhindern.
Der Missbrauchsfall in Lüdge ist ein solcher Fall. Sofort zog er die Forderung nach sich, sexuellen Missbrauch von Kindern als „Verbrechen“ einzustufen und nicht mehr als „Vergehen“ zu behandeln. Womit man vielleicht einen Teil der Öffentlichkeit besänftigen mag, aber keine weiteren Taten vermeidet und sogar den Opfern schadet.
Die Sichtweise der Politik
Nordrhein-Westfalens Innenminister Reul forderte unter dem Eindruck von Lügde höhere Strafen für Kindesmissbrauch. Aus seiner Sicht sollte das Herstellen und Verbreiten von Kinderpornografie als Verbrechen und nicht mehr als Vergehen eingestuft werden.
„Für mich ist sexueller Missbrauch wie Mord. Damit wird das Leben von Kindern beendet - nicht physisch, aber psychisch“, sagte der Innenminister von NRW dem „RedaktionsNetzwerk Deutschland“ am 10. Juni 2020.
Entsprechend plädierte auch die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern Manuela Schwesig für eine Strafverschärfung bei Kindesmissbrauch: „Jeder Missbrauch muss grundsätzlich als Verbrechen geahndet werden, denn er ist immer ein Verbrechen an der Seele und dem Körper eines Kindes“, argumentierte Schwesig der „Bild am Sonntag“. „Auch bei Kinderpornografie muss ein höheres Strafmaß als bisher gelten, denn hinter den Bildern und Videos steht reale und brutale Gewalt gegen ein Kind“.
Anders die Opposition, die zu Recht die pauschale Hochstufung aller Taten im Bereich Kindesmissbrauch und Kinderpornographie zu Verbrechen kritisiert. Dies insbesondere mit dem Argument, dass auf diese Weise den Staatsanwaltschaften und Gerichten die Möglichkeit, in eindeutig minderschweren Fällen differenziert vorzugehen – man denke nur an Intimitäten eines 15-jährigen mit seiner 13-jährigen Freundin genommen wird.
Insbesondere könnten die sich eindeutig von der ursprünglichen Vorstellung des Gesetzgebers über den sexuellen Missbrauch von Kindern nicht mehr wegen Geringfügigkeit eingestellt werden.
Die Forderung der Union und nunmehr auch erfolgte Umsetzung im Bundestag aufgrund der außerordentlichen psychischen Belastung für Kinder und Jugendliche mag auf den ersten Blick nachvollziehbar und verständlich sein. Nur verkennt sie, dass der Begriff „Verbrechen“ aus strafrechtlicher Sicht prozessuale Konsequenzen nach sich zieht, die Opfern großen Schaden zufügen können. Es setzt am Täter am – und berücksichtigt nicht die komplexen Zusammenhänge von Gesellschaft, Behörden, Strafprozess sowie sinnvollen Strategien, Kindesmissbrauch zu verhindern und schon in den Anfängen zu unterbinden.
Der Blick auf die Opfer bleibt außen vor und auch die näheren Umstände bzw. die gesellschaftlichen, politischen und behördlichen Entscheidungen, welche erst einen Fall Lügde in seiner erschreckenden Dimension möglich machten.
Aktuelle Lage - Die Auswirkungen der Gesetzesverschärfung
Mittlerweile wuchs der Druck, Wahlen finden statt, fast gewinnt man den Eindruck, dass eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem Thema ins Hintertreffen gerät. Justizministerin Christine Lambrecht stand Forderungen nach schärferen Strafen zunächst zurückhaltend gegenüber. Es schien so, dass auf Maßnahmen gesetzt wird, die hier tatsächlich voranbringen. „Wichtiger ist es,“ stellte sie fest „ konkret den Ermittlern mehr Möglichkeiten zu geben und sie gut auszustatten.“
Nun aber entschied die Bundesjustizministerin, eine Verschärfung der Strafen für Kindesmissbrauch rasch auf den Weg bringen zu wollen. Sie wies ihr Ministerium an, „schnellstmöglich" einen Gesetzentwurf für die geplanten Änderungen vorzulegen. Was nun ja auch geschehen ist.
Die Folgen sind schon jetzt spürbar. Schon die Ankündigung einer Gesetzesverschärfung führte dazu, dass Richter bereits vor dem 25.03.2021, mithin vor Bekanntwerden des Gesetzesentwurfs zur Verschärfung der Bestrafung bei Kindesmissbrauch und Kinderpornographie bei der Aburteilung von Tatvorwürfen des Kindesmissbrauchs und des Besitzes von Kinderpornografie mit Verweis auf die anstehende Gesetzesänderung den Strafrahmen weiter nach oben ausschöpften als das bisher der Fall war. So erst in der vergangenen Woche der Vertreter der Staatsanwaltschaft Bremen in einem Verfahren vor dem Amtsgericht Bremen-Blumenthal.
Das Wohl der betroffenen Kinder - Die Sanktionen laut Strafgesetzbuch
Die Paragrafen 176 und 176a im Strafgesetzbuch regeln, wer Kinder sexuell missbraucht, muss heute mit einer Höchststrafe von zehn Jahren rechnen. Die Mindeststrafe liegt bei sechs beziehungsweise drei Monaten. Für schweren Kindesmissbrauch darf die Strafe - je nach Sachlage - nicht unter einem beziehungsweise nicht unter zwei Jahren liegen.
Die niedrige Mindeststrafe bei § 176 StGB, also dem „einfachen“ sexuellen Missbrauch von Kindern bedeutet, dass Kindesmissbrauch, soweit es nicht um einen schweren Missbrauch geht, juristisch als Vergehen eingestuft wird - eben nicht als Verbrechen.
Das hat der Gesetzgeber seinerzeit mit gutem Grund so geregelt und bei späteren Reformen beibehalten. So bleibt es möglich, ein Strafverfahren unter Auflagen einzustellen oder einen Täter im schriftlichen Strafbefehlsverfahren zu verurteilen. Gerade in den Fällen, in welchen der Beschuldigte sexuelle Handlungen vor – und nicht an - einem Kind vornimmt oder einem Kind Pornographie zugänglich macht, ist das fatal. Und insbesondere dann, wenn das „Kind“ bereits über 13 Jahre alt ist; die Schutzaltersgrenze von 14 Jahren also bereits knapp erreicht hat.
Die Konsequenzen der neu beschlossenen strafrechtlichen Einstufung
Die strafrechtliche Einstufung von Kindesmissbrauch als Verbrechen hätte zur Konsequenz, dass es künftig keine sogenannten Strafbefehlsverfahren geben könnte und damit Verurteilungen ohne mündliche Verhandlungen. Beides erspart betroffenen Kindern, in einer mündlichen Verhandlung als Zeugen aussagen zu müssen. Es würde zu längeren Verhandlungen führen und auch zu einer geringeren Zahl von Einstellungen mangels Tatverdacht. Verteidigungen und Zeugenvernehmungen in den mündlichen Verhandlungen würden mit Bestimmtheit härter geführt werden. Jeder kann sich vorstellen, welche enormen Belastungen und erneute Traumatisierung für das kindliche oder jugendliche Missbrauchsopfer die Folgen sind – sofern es sich denn jeweils tatsächlich einmal um ein wahres Missbrauchsopfer handelt.
Damit ist die pauschale Hochstufung aller Taten im Bereich Kindesmissbrauch zu Verbrechen fatal. Ein differenziertes Vorgehen bei eindeutig minderschweren Fällen ist nicht mehr möglich. Verfahren können nicht mehr wegen Geringfügigkeit eingestellt werden; Untersuchungshaft kann leichter angeordnet werden.
Durch die Eintragung auch sehr lang zurückliegender Verurteilungen wegen Kindesmissbrauchs oder Kinderpornographie in das erweiterte Führungszeugnis wird Betroffenen weitere Motivation zur Therapie und Veränderung genommen.
Zu einer solchen Einschätzung komme nicht nur ich als Strafverteidigerin auf dem Gebiet des Sexualstrafrechts, die schon viele Missbrauchsfälle auf Seiten vermeintlicher Täter begleitet hat. Sie entspricht in großen Teilen auch der Auffassung des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung Johannes- Wilhelm Rörig in der SZ vom 2. Oktober 2020 im Gespräch mit Edeltraut Rattenhuber. Ausdrücklich spricht er von den Nachteilen für die Opfer aufgrund schärferer Strafen. Was Lügde hätte verhindern können.
Der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist kein Phänomen, dass durch Strafverschärfung eingedämmt werden kann. In meinem früheren Blog-Artikel „Es würde helfen, Pädophile nicht als Monster zu betrachten.“ habe ich dargestellt, inwiefern die vorbehaltlose Einstufung vermeintlicher Täter als Verbrecher gerade nicht dabei helfen kann, die Probleme in den Griff zu bekommen. Und wenig dienlich ist, Kindesmissbrauch schon im Vorfeld zu verhindern.
Der konkrete Vorfall in der Kleinstadt Lügde
Wir wissen mittlerweile, dass in Nordrhein-Westfalen der Fall Lügde in seiner entsetzlichen Dimension hätte verhindert werden können, wenn die Jugendämter ausreichend und zum Thema sexuelle Gewalt gut geschultes Personal gehabt hätten. Das gleiche gilt in allen Bundesländern für die Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen. Es gilt aber auch für uns alle als Gesellschaft. Die Signale missbrauchter Kinder müssen besser erkannt werden. Es ist erschreckend, in welch geringem Umfang auf allen Ebenen verantwortlicher Personen Anzeichen von Missbrauch erkannt und tatsächlich nachverfolgt werden. Und gleichzeitig aus egoistischen Motiven etlicher Kindesmütter in Sorgerechts- und Umgangsverfahren vor den Familiengerichten Kinder durch Suggestion zu Missbrauchsopfern gemacht werden.
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung spricht in einem Interview mit der SZ davon: „Wissen Sie, ich habe sehr darunter gelitten, dass wir von den Vermittlungsbeamten hören, dass sie die Bilder, die sie von den Missbrauchstaten gesehen haben, nicht ertragen können - zugleich aber die Mädchen und Jungen, denen dieses Leid angetan wurde, in der Schule nicht auffielen.“
Auch das Positionspapier der Bundesregierung von 2020 „Gemeinsam gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ betrachtet wirksamen Schutz der Kinder vor sexueller Gewalt als eine gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Verantwortung“.
So schwer es auch fällt, es sich einzugestehen: sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen wird sich nicht generell unterbinden lassen.
Kindesmissbrauch vermeiden und vorbeugen: Aufklärung in der Gesellschaft
Um Fälle wie Lügde zu vermeiden und sich nicht entwickeln zu lassen, kommt es auch darauf an, einer generellen Stigmatisierung der Täter als Verbrecher mit größter Vorsicht zu begegnen. Weitaus hilfreicher ist es, in der Gesellschaft eine differenzierte Einstellung zu erzeugen, die den Boden dafür bereitet, Tätern schon bei ersten Anzeichen Hilfe anzubieten. Als Gesellschaft sind wir gefordert, uns den Herausforderungen zu stellen und dringend auf allen Ebenen Prävention, Intervention und Hilfe für Kinder, Jugendliche und erwachsene Betroffene auszubauen.
Rörig sagt dazu in seinem Positionspapier: „Das muss als vorrangige nationale Daueraufgabe von allen anerkannt und wahrgenommen werden: von Bund, Ländern, Kommunen, von den politischen Parteien, von der Zivilgesellschaft – etwa den Kirchen, der Wohlfahrtspflege, dem organisierten Sport – und nicht zuletzt auch von der Internetwirtschaft, der gesamten Medienlandschaft und der Bevölkerung. Nur gemeinsam können wir dem Ausmaß sexueller Gewalt begegnen, nur gemeinsam die Fallzahlen maximal und stetig verringern.“
Die bessere Vernetzung und Kooperation der unterschiedlichen Akteure im Kampf gegen sexuellen Missbrauch und dessen Folgen ist dabei für den Erfolg entscheidend: Bildung, Soziales, Gesundheit, Jugendhilfe, Polizei und Justiz müssen ihre interdisziplinäre Zusammenarbeit in diesem Themenfeld weiter vertiefen. Zudem müssen auch Angehörige von Betroffenen, das soziale Umfeld und Fachkräfte, die in Kontakt mit Betroffenen sind, besser kooperieren, wenn es um Vorbeugung, Verhinderung und Aufdeckung von sexueller Gewalt gegen Minderjährige geht.
Der Bericht an die Bundesregierung sieht deshalb eine „gesetzliche Berichtspflicht“ vor, eröffnet eine „breit angelegte Aufklärungs- und Sensibilisierungsinitiative“, einen breiten Maßnahmen- Katalog sowie einen „Masterplan zur Bekämpfung von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“ und empfiehlt die geplante Strafrechtsreform „differenziert“ umzusetzen.
Bleibt nur inständig zu hoffen, dass diese Betrachtungsweise auch Gesellschaft und Bundesrat erreicht.