DER HUNDEHAUFEN - Oder warum der Stuttgart-Tatort „Videobeweis“ ein richtig guter Beitrag zur Debatte um sexuelle Gewalt und MeToo ist.
Es ist der Hundehaufen im Garten des toten Opfers, der am Ende des Tatorts Kommissar Bootz plötzlich die Eingebung dazu gibt, wer an der Tat beteiligt gewesen sein muss. Der Hundekot legt nahe, dass die Versicherungs-Mathematikerin Kim Tramell und nicht der beschuldigte und mittlerweile verhaftete Abteilungsleiter Oliver Jansen am Tod des Kollegen Verantwortung trägt.
Was den Krimi aber ausmacht und auf spannende Weise vorantreibt, sind die Ambivalenzen, Widersprüche und ausgesprochenen wie unausgesprochenen Beweggründe in der Darstellung und den Aussagen der beiden Verdächtigen angesichts der Anschuldigungen der Frau, von ihrem Vorgesetzten vergewaltigt worden zu sein. Auf subtiler emotionaler Ebene entsteht dabei zugleich ein außergewöhnlicher Krimi, der zugleich einen wichtigen Beitrag zur Debatte um sexuelle Gewalt und MeToo leistet und vieles von dem widerspiegelt, was meinen Erfahrungen als langjährige Fachanwältin auf dem Gebiet entspricht.
Der Mann, der behauptet, der Geschlechtsakt sei von beiden gewollt gewesen. Die Frau, die sagt, sie sei gezwungen worden. Beide sind überzeugt von ihrer Sichtweise und Wahrnehmung. Subjektiv motivierte Aussagen der Beteiligten offenbaren eine schwer zu ergründende Psychologie sexueller Handlungen und lassen den Gedanken an die eine Wahrheit verschwinden. Die Wahrheitsfindung wird zu einer hochdiffizilen Angelegenheit, da es meist keine Zeugen und keine Beweismittel gibt. Im Stuttgart-Tatort allerdings gibt es einen solchen Beweis, einen „Videobeweis“, der den Sex zeigt, sich aber als vermeintlich objektiv erweist. Die Bilder erscheinen als vieldeutig und in unterschiedliche Richtungen interpretationsfähig . Und wäre da nicht der Hundehaufen, wären die Kommissare und die Zuschauer am Ende der Darstellung der Frau gefolgt und der Mann zum Justizirrtum geworden.
Es geht um sexuelle Gewalt und ein Tötungsdelikt
Zunächst zum Szenario des „Tatorts“, zu den Protagonisten und der Konstellation zwischen ihnen, die den Tatort fast schon zu einem Kammerspiel machen. Das Spiel beginnt bei der Weihnachtsfeier einer Versicherungsgesellschaft mit Karaoke und reichlich Alkohol, bei der am Ende drei Personen übrigbleiben.
Die Frau: Kim Tramell ist – wie schon erwähnt – Mathematikerin bei der Versicherungsgesellschaft. Sie ist keinesfalls ein Opfertyp, sondern eine selbstbewusste und erfolgreiche Frau, die Kommissar Lannert damit beeindruckt, dass sie einen exklusiven historischen Sportwagen fährt und in der Lage ist, den alten Porsche des Kommissars mit ein paar Handgriffen wieder in Gang zu setzen. Überzeugend dargestellt von der überragenden Ursina Lardi.
Der Mann: Oliver Jansen (Oliver Wnuk) ist Abteilungsleiter und der Vorgesetzte von Kim Tramell. Kein Supermacho, sondern ein – wie er selbst sagt – durch Homeoffice und Kind frustrierter Ehemann. Macht besitzt er, indem der an die Frau und einen Kollegen einen Posten zu vergeben hat, der den Aufstieg in der Hierarchie der Versicherungsgesellschaft bedeutet.
Das tote Opfer: Er ist mit der Frau befreundet und zugleich Konkurrent um die vakante Stelle. Beide haben sich versichert, dass es dabei fair zugehen soll. Bei Gelegenheit kümmert sich die Frau um seinen Hund.
Was passiert: Es kommt zu sexuellen Handlungen zwischen der Frau und dem Abteilungsleiter. Am nächsten Morgen wird der Konkurrent der Frau im Foyer der Versicherung tot aufgefunden. Er ist aus dem oberen Stockwerk in die Tiefe gestürzt. Da jemand um die Leiche herum Scherben geputzt hat und Putzhandschuhe im Reinigungswagen fehlen, ist klar, dass es sich nicht um Selbstmord handeln kann.
Das Drama wechselseitiger Anschuldigungen
Die besondere Qualität des klug und feinsinnig gebauten Krimis besteht nun darin, dass ein Handyvideo auftaucht, das offensichtlich das tote Opfer von den sexuellen Handlungen zwischen seiner Konkurrentin und dem Abteilungsleiter gemacht hat. Der vermeintliche „Videobeweis“ wird immer wieder gezeigt und immer wieder mit anderen Augen betrachtet. Die sich widersprechenden Aussagen von Kim Tramell und Oliver Jansen sowie die Interpretationen und Sichtweisen der Kommissare lassen die Bilder des „Videobeweises“ immer mehr an objektiver Beweiskraft für die Wahrheit des Geschehens verlieren. Die Bilder erscheinen plötzlich als nicht mehr eindeutig. Es bleiben nur noch die subjektiven, von unterschiedlichen Interessen und Motivationen geprägten Blickwinkel der Beschuldigenden und des Beschuldigten sowie die variierenden Einschätzungen der Kommissare im Ringen um einen objektiven Tatbestand.
Als das Video das erste Mal gezeigt wird, lässt es dem Anschein nach keine Hinweise auf sexuelle Gewalt erkennen, sondern eher Einvernehmlichkeit vermuten. Kommissar Lannert sagt bei der ersten Konfrontation der Frau mit dem Video, dass er keine Gewalt erkennen könne. Kim Tramell antwortet darauf: „ Sie wissen, was ich wollte?“ Er antwortet: “ Nein, aber ich weiß, was ich sehe.“ Er scheint an dieser Stelle überzeugt von der Einvernehmlichkeit des Sex mit dem Vorgesetzten.
Doch bei den Kommissaren (wie auch den Zuschauern) entstehen durch die Aussage der Frau Zweifel an der Einvernehmlichkeit. Die berufliche Abhängigkeit gegenüber ihrem Chef, der einen lukrativen und prestigeträchtigen Job zu vergeben hat, den nur die Frau oder der tote Konkurrent erhalten kann, bringt durchaus die Möglichkeit ins Spiel, hier könnte ein Fall von MeToo und die Ausnutzung einer Machtposition vorliegen. Andererseits wer weiß, ob der Sex nicht auch in das Kalkül der Frau passt. Die Frau erscheint als selbstbewusst und verfügt über Ausstrahlung und Charme. Sie scheint zu wissen, was sie tut.
Das Drama nimmt seinen Lauf, indem der Abteilungsleiter durch den Vorwurf der Vergewaltigung unter massiven Druck gerät. Er lauert der Frau auf, was ihn noch verdächtiger macht, und er gerät seiner Ehefrau gegenüber unter Rechtfertigungszwang.
Seiner Aussage nach will er im Verhalten der Frau eindeutige Signale der Aufforderung zum Sex gesehen haben. Für ihn ist das Geschehen das Ergebnis der alkoholisierten Situation und wechselseitiger Sympathie.
Für die Kommissare und den Zuschauer bleibt es offen: Ist das Verhalten der Frau, die ihren Mantel im oberen Stockwerk holen möchte, tatsächlich als eine Einladung zum Sex zu bewerten. Bedeutet der „Gute-Nacht-Kuss“, den sie ihm schenkt und eine erste Abwehr der Hand des Chefs unter ihrem Rock vielleicht doch ein zurückhaltendes „Nein“, das der beruflichen Abhängigkeit geschuldet ist. Ist ihr Verhalten bei allem Selbstbewusstsein nicht doch Ausdruck einer gewissen Verunsicherung gegenüber der Macht des Chefs überihre Zukunft. Oder sind ihre Gesten der Zuwendung und Zurückweisung vielleicht doch das Kalkül einer Karrieristin, die Sex einsetzt, um in der Hierarchie aufzusteigen und sich gegenüber dem Konkurrenten einen Vorteil zu verschaffen.
Das Mordopfer ist offensichtlich dieser Ansicht. Entrüstet über die Situation und wohl auch, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen und den Vorgesetzten und die Frau unter Druck zu setzen, filmt er den Sex mit dem Handy.
Das Drama der Aussagepsychologie
Die Kommissare spielen im Kopf (was szenisch gezeigt wird) die Möglichkeiten durch, was tatsächlich passiert sein könnte. Es eröffnet sich ein ambivalentes Szenario, das sich bei Anschuldigungen auf sexuelle Gewalt immer wieder auch in den Gerichtssälen abspielt und durch mediale Vorverurteilung der Männer und ein entsprechendes gesellschaftliches Klima unterschwellig die Frau zum Opfer und den Mann zum Täter erklärt. Der Stuttgart-Tatort führt dabei auf subtile Weise vor, dass die subjektive Wahrnehmung des vermeintlichen Täters und des Opfers nicht Lügen im landläufigen Sinne sind, sondern Ausdruck der Irrungen und Wirrungen, der Empfindungen und Beweggründe, der Emotionen und Egoismen in den Beziehungen zwischen ihnen. (Bei gleichgeschlechtlichen Konstellationen gilt im übrigen das Gleiche.) In der Regel ist es ausgesprochen schwierig, hier die eine Wahrheit zu identifizieren, die noch dazu in den durch das Sexual-Strafrecht definierten Rahmen passt, der kaum Raum für die Abgründe und Wirrnisse zwischenmenschlicher Beziehungen lässt.
Im Stuttgart-Tatort fügt sich die Frau mit einem Brieföffner selbst eine Wunde zu, um ihrer Version von der Vergewaltigung einen handfesten Beweis zu liefern. Die attestierte Verwundung führt zur Verhaftung des Mannes, dem auch die eigene Ehefrau (sie ist zugleich Rechtsanwältin) nicht mehr glaubt. Ohne den Hundekot, in den Kommissar Bootzzu Beginn der Ermittlungen im Garten des toten Opfers zufällig tritt und eine zufällig frostige Nacht, die den weichen Kot gefroren hätte, wäre der Mann vermutlich verurteilt worden. Der Hundehaufen offenbart ihm plötzlich, dass Kim Tramell nach der Tat am Morgen im Hause des Opfers gewesen sein muss, um den Hund in den Garten zu lassen und sein Geschäft zu verrichten, sie also entgegen ihrer Behauptung gewusst haben muss, dass er tot ist. Unter diesem objektiven Druck gibt sie zu, dass es zwischen ihr und ihrem Konkurrenten einen Kampf um das Handy gab, bei dem er zu Tode stürzte. Ohne den Hundekot wäre der Krimi so ausgegangen wie der beklagte Oliver Jansen bei einer Vernehmung zu den Kommissaren sagt: „Was haben Sie für eine Möglichkeit, sich zu wehren, wenn sie danach ankommt und sagt, dass Sie sie gezwungen hätten. Sie haben keine Chance, nicht den Hauch einer Chance. Das ist die effektivste Form, jemanden fertig zu machen. Das wissen Sie genauso gut wie ich.“
Im Gerichtssaal liegt in solchen Fällen in der Regel die einzige Chance in der akribischen Anwendung differenzierter Aussagepsychologie. (Hier erfahren Sie mehr darüber, was Aussagepsychologie bei Verhandlungen von Sexualdelikten bedeutet) Die Dimension aussagepsycholgischer Auseinandersetzung eröffnet sich im Krimi auf allen Ebenen des Prozesses der Wahrheitsfindung der Kommissare, die das Ausmaß und die Spielräume subjektiver Wahrnehmung und der Ambivalenz der Motivationen, die zur Anschuldigung auf sexuelle Gewalt und dem Infragestellen der Einvernehmlichkeit sexueller Handlungen erahnen lässt. Als Fachanwältin für Sexualstrafrecht kann ich hier nur anmerken, die oft platte Debatte um sexuelle Gewalt und MeToo in der Öffentlichkeit und in den Medien, die Frauen schnell unter Opferschutz und Männer unter Generalverdacht stellt, hat hier einen diffizilen Beitrag mit viel Tiefgang erhalten. Chapeau für den „Videobeweis“, dem es auch gelungen ist, einfach ein spannender Krimi zu sein.