Das menschliche und juristische Drama der Wahrheitsfindung
Zu Ferdinand von Schirachs TV-Drama „Sie sagt. Er sagt.“ über ein Vergewaltigungs-Verfahren.
Man merkt dem Film in jeder Szene an, dass der Drehbuchautor Ferdinand von Schirach als Jurist weiß, was er tut, wenn er die gerichtliche Auseinandersetzung über eine Vergewaltigung in die Form eines berührenden Fernsehfilms bringt. Es findet ein Strafgerichts-Kammerspiel statt, dem man mit Spannung folgt und dabei wird eine nuancierte Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des Themas vermittelt, das sich jenseits der üblichen Klischees und des Mainstreams bewegt.
Als Strafverteidigerin spezialisiert auf die Verteidigung in Sexualstrafverfahren kann ich nur Danke sagen für einen Film, der subtil mit so manchen falschen Vorstellungen aufräumt und hoffentlich mehr Bewusstsein schafft für die Realität einer solchen Gerichtsverhandlung. Das Film-Drama entfaltet das juristische und menschliche Drama, das in der Regel damit einhergeht. Und zwar für alle Beteiligten, nicht nur die Zeugin der Anklage und den Angeklagten, sondern auch für das Gericht, die Gerichtsbarkeit, die Gesellschaft und womöglich die Zuschauer vor dem Fernseher. Besten Dank also an Drehbuchautor Ferdinand von Schirach, Regisseur Matti Geschonneck und Akteure, wie der gelassenen und doch widerständig agierenden Strafverteidigerin Henriette Confurius und dem bisweilen so nervtötenden wie großartigen Nebenkläger Matthias Brandt, der empfindsamen und selbstbewussten Ina Weisse und dem nicht aussagenden Godehard Giese als Kontrahenten sowie allen anderen Akteuren.
Subjektivität als Faktor bei Sexualdelikten
Das Gerichts-Drama inszeniert, wie der juristische Anspruch auf Wahrheitsfindung in einem Sexualstrafverfahren zwischen Erwachsenen ständig an seine Grenzen stößt. Aussagen, Gutachten, Gegengutachten und Auseinandersetzungen sind wie in keinem anderen Strafverfahren geprägt durch einen subjektiven Faktor, der offenbart, wer wir Menschen sind.
Die Begrenztheit unserer Wahrnehmung, die Individualität unserer Emotionen, die Sehnsucht und das Begehren entwickeln vor Gericht einen hochkomplizierten Prozess der Wahrheitsfindung.
Aussagen repräsentieren bei Sexualdelikten zwischen Erwachsenen oft nichts anderes als eine subjektive Wahrnehmung, die kaum objektivierbar ist. Ihre Beurteilung ist eine Frage der Interpretation, die wiederum immer auch von den Gefühlen und Erfahrungen des jeweiligen Menschen geleitet ist. Die Normen und Richtlinien der Gerichtsbarkeit und Gesetzgebung bedeuten ein Ringen um eine Objektivierung des Sachverhalts und können doch dem Ziel der Wahrheitsfindung nie vollständig gerecht werden. Nicht weil man sich nicht hinreichend darum bemühen würde, sondern weil ein Vergewaltigungsvorwurf sich in einem Feld bewegt, der in zwischenmenschliche Untiefen blickt und mit inneren Prozessen einhergeht, die auch geschulten Außenstehenden oft unzureichend zugänglich sind – mitunter auch nicht den unmittelbar beteiligten Personen.
Der Mangel an handfesten Beweisen ruft beim Gericht und bei den Zuschauern Emotionen und Bewertungen hervor, die selbst eine entsprechende Schulung und Erfahrung meist nicht restlos ausblenden kann. Oder wie am Anfang des Films über das Gericht gesagt wird: „Unser Strafgesetzbuch kennt den Begriff des Bösen nicht. Es beschreibt, was Vergehen und Verbrechen sind, ein Sachverhalt wird aufgelöst in Tat, Rechtswidrigkeit und Schuld.
Als Richter müssen Sie urteilen, Sie können dem nicht ausweichen. ... Und immer entscheiden Sie dabei auch, wer Sie selbst sind.“
Der Vergewaltigungsvorwurf
Schon der Tathergang entspricht wenig der landläufigen Vorstellung von einer Vergewaltigung. Sie widerspricht dem eindeutigen Opfer-Mythos, der in vielen Köpfen vorherrscht und gerne medial verbreitet wird: Ein Mann fällt in einer dunklen Gasse hinterrücks über eine Frau her und tut ihr Gewalt an.
Die Realität ist meist komplizierter. In Schirachs TV-Film gehen Frau und Mann über Jahre eine Liebesaffäre und einvernehmliche sexuelle Beziehung ein. Beide erfolgreich und in geordneten Verhältnissen lebend, beide in einer Ehe mit Kindern, beide sind untreu gegenüber ihren Ehepartnern. Beide berichten davon, dass sie nicht „springen“ konnten und sich für die Freiheit und ihre Liebe hätten entscheiden können. Sie beenden die außereheliche Beziehung und kehren beide in ihre Leben zurück, bis es Monate später nach einer zufälligen Begegnung zu erneuten sexuellen Handlungen kommt. Zunächst leidenschaftlich und einvernehmlich, wie die Frau berichtet, aber plötzlich habe sie gespürt, dass es falsch ist und sie den Sex nicht mehr möchte.
Für das Gerichtsverfahren von entscheidender Bedeutung: Sie habe ihre Weigerung in diesem Moment deutlich artikuliert, mehrfach, aber der Mann habe nicht von ihr abgelassen, bis sie ihn endlich von sich stoßen konnte, er aus dem Bett fiel und dort auf das Kleid der Frau Sperma-Spuren hinterließ, die später als ein Beweismittel herangezogen werden.
Der Mann hingegen behauptet, sie wären nicht im Bett gelandet, sondern es hätte nur Oralverkehr vor dem Sofa stattgefunden. Beide stimmen darin überein, dass sie beide nach der vermeintlichen Vergewaltigung noch lange Zeit wortlos zusammengesessen hätten. Bis die Frau gegangen sei.
Ferdinand von Schirach hat hier eine Konstellation geschaffen, der mehr Realität zukommt als der gängigen Meinung und dem erwähnten Opfer-Mythos. Ambivalente Emotionen spielen eine Rolle, die sexuellen Handlungen oft nicht fremd sind und nicht in das Schema einer eindeutigen Täter-Opfer-Beziehung passen.
Fast könnte man sagen, wir haben es hier mit einem Unglücksfall zwischen zwei Menschen zu tun, der von Schuldgefühlen, Sehnsucht und Verzweiflung über verlorene Liebe und Zurückweisung geprägt ist.
Der Prozess der Wahrheitsfindung
Es steht Aussage gegen Aussage. In diesem Zusammenhang die Kategorie der Lüge zu bemühen, würde zu kurz greifen. Hinter der Unterschiedlichkeit der Aussagen muss sich keine böse Absicht verbergen. Jeder Aussage liegt das eigene subjektive Erleben zugrunde, aber ggf. auch kaum unterscheidbar subjektive Bedürfnisse und Interessen.
Ein Sexualstrafverfahren hat damit meist mit den zutiefst menschlichen Grenzen der Fähigkeit zu objektiver Wahrnehmung zu tun. Gerade hier, wo das Geschehen so sehr von Emotionen, Sehnsüchten und Wünschen bestimmt ist.
Das Gericht ist dazu angehalten, die eine Wahrheit zu identifizieren. Was für ein mühsames Ringen um Objektivität das ist, wird im Film deutlich, wenn die Gerichtsmedizinerin zweifelsfrei und akribisch dokumentiert, dass die Sperma-Spuren auf dem Kleid der Zeugin der Anklage eindeutig als die des vermeintlichen Angeschuldigten zu identifizieren sind. Hier wird fast verzweifelt um objektive Anhaltspunkte gerungen.
Die Strafverteidigerin hebt darauf ab, dass die Spuren nicht exakt datiert werden können, und per Video-Beweis versucht sie darzulegen, dass das vermeintliche Opfer das Kleid nicht zweifelsfrei am Tat-Tag getragen hat, und ihr deshalb ein vorsätzlicher Racheakt aufgrund zurückgewiesener Liebe vorgeworfen werden kann.
Was wiederum der Vertreter der Nebenklage durch einen Video-Beweis entkräften, aber nicht vollständig ausschließen kann. Das Hin und Her der Beweisaufnahme ist Ausdruck der grundsätzlichen Problematik, dass es eben für die Tat selbst keinen Beweis gibt und deshalb indirekte Wege zur Beweisführung beschritten werden müssen.
Jede Partei, hat seine eigene Wahrheit. Es ist die Frage, was sie dazu motiviert. Der Wunsch nicht ins Gefängnis zu gehen, das Bedürfnis, keine Schuld auf sich geladen zu haben.
Wir haben es in diesem Fall mit zwei reflektierten, erfolgreichen Personen mit einem Bewusstsein eigener Schuld und Gewissensnot aufgrund des Verrats an ihren Ehegatten zu tun. Wir sind konfrontiert mit menschlicher Schwäche, emotionalem Zwiespalt und menschlicher Unzulänglichkeit. Und beide hat das Leben bereits bestraft.
Beim Prozess der Urteilsfindung können auch wir selbst zum Problem werden, was ich als Strafverteidigerin schon in vielen Verhandlungen erlebt habe. Wir selbst können uns nur bedingt frei machen von eigenen Vorstellungen und Gefühlen bei einem solchen Tatvorwurf. Unsere Sentiments und Ressentiments, unsere Erfahrungen und Projektionen leiten auch uns selbst bei der Bewertung an. Die subjektiven Wahrheiten der Kontrahenten korrespondieren mit unserem subjektiven Urteilsvermögen bei Sexualdelikten, wenn eine Täterschaft nicht klar auf der Hand liegt.
Der Film zeigt auch, wie notwendig Erfahrung, Schulung, Selbstreflexion und Supervision für ein Richteramt erforderlich sind.
Das „Nein heißt Nein“
Zentral für das Gerichtsurteil ist die vor gar nicht so langer Zeit eingeführte Grundsatz-Frage, inwiefern eine Frau deutlich artikuliert hat, keinen Geschlechtsverkehr haben zu wollen. In der Dramaturgie des Films ist diese Frage schwer zu beantworten, zumal die Frau zunächst in den Sex einwilligte und sich so eine bestimmte Beziehungsdynamik entwickeln konnte. Erst während des Sex, so gibt sie an, habe sich in ihr die Abwehr entwickelt, sie habe dann mehrfach deutlich „Nein“ gesagt und um den Abbruch der Handlungen gebeten. Der Mann aber habe unbeirrt weiter gemacht.
Das Kriterium der deutlichen verbalen Ablehnung, vom Gesetzgeber zugunsten eines klaren Kriteriums eingeführt, wird damit zu einer Aussage, der in der Realität nicht immer Klarheit zukommt.
Es könnte ja auch sein, dass der Mann es überhört hat. Es könnte sein, dass die Ablehnung sich vor allem in ihrem Kopf abgespielt hat. Es gibt Fallbeispiele, in denen das tatsächlich so ist. Das wird im Film nicht näher benannt. Die Story im Film lässt keine Täter-Opfer-Beziehung in eindeutiger Klarheit zu. Es kann allenfalls eine Parteinahme stattfinden.
Sie basiert auf der sog. Glaubhaftigkeit der Aussage. Das erzeugt in der Geschichte nicht nur Spannung, sondern entspricht auch der Realität unterschiedlicher inneren Vorgänge und Wahrnehmung.
Entsprechend hebt der Vertreter der Nebenklage dezidiert auf der Glaubhaftigkeit der Aussage der Zeugin der Anklage ab. Folgerichtig argumentiert er mit der nicht von objektiven Beweisen, sondern von Emotionen geprägten überzeugenden Glaubhaftigkeit der Aussage.
Das subjektive Drama der Urteilsfindung
Bei den Zuhörern bzw. den Zuschauern vor den TV-Geräten kann das durchaus Überzeugungskraft entwickeln. Allerdings gelingt es der Strafverteidigerin ebenso überzeugend vorzutragen. Es könne sich sehr wohl um einen Racheakt gehandelt haben. Der muss dem vermeintlichen Opfer noch nicht einmal angekreidet werden. Die Trennung war nicht einvernehmlich, sondern ging von Seiten des Mannes aus. Sie habe sich in einem emotionalen Ausnahmezustand befunden, der sie die stattgefundenen sexuellen Handlungen missverständlich interpretieren ließ.
Zu ergänzen aus meiner langjährigen Praxis, dass falsche Anschuldigungen als Racheakt, aber auch aufgrund psychologischer Projektionen und fehlgeleiteter Wahrnehmung gar nicht so selten vorkommen. Und in diesem Zusammenhang, die Aussage-Psychologin im Film ist eine Aussage-Psychologin des Gerichts und keine Aussage-Psychologin der Verteidigung.
Die Strafverteidigerin im Film übernimmt diesen Part zum Teil. Vermutlich hätte eine eigene Aussage-Psychologin der Verteidigerin die Dramaturgie des Films gesprengt.
Ich selbst als Strafverteidigerin kann nur darauf hinweisen, dass eine fundierte Aussage-Psychologie in Gerichtsverfahren oft entscheidend ist. Die Glaubhaftigkeit der Klägerin wird dann nach wissenschaftlich begründeten Regeln bewertet. Von der Gesetzgebung ist ein solches Aussage-psychologisches Gutachten im Übrigen ausdrücklich vorgesehen.
Die Gesellschaft
Darüber hinaus wird angesprochen, dass es tatsächlich eine Dunkelziffer an Opfern gibt, die aus Scham oder Angst es nicht wagen, bei einer Vergewaltigung Strafanzeige zu erstatten.
Die Zeugin der Anklage berichtet, dass sie aus Angst vor der Öffentlichkeit schon wegen ihres exponierten Jobs nicht sofort, sondern erst auf Drängen ihrer Freundin zur Polizei gegangen zu sein, und dass sie schließlich tatsächlich Hass-Attacken in den sozialen Medien ausgesetzt gewesen sei.
Auch das Verfahren selbst kann Opfer daran hindern, zur Polizei zu gehen. Denn die ermittelnden Beamten sind dazu angehalten, Aussage und Verhalten bei einer Anschuldigung möglichst einer Prüfung zu unterziehen.
In meiner Erfahrung allerdings kann ich hier hinzufügen, dass sich heutzutage eine oft nicht hinterfragte Opfer-Empathie breit macht, die auf dem Opfer-Mythos beruht. Vom Polizeibeamten bis in den Gerichtssaal hinein ist die Stimmung gegen einen vermeintlichen Täter und für das Opfer getragen, noch ehe eine Verhandlung stattgefunden hat.
Oft steht dann auch die Verhandlung unter diesem Diktum der Voreingenommenheit. Polizei, Staatsanwälte, Richter sind nicht immer ausreichend geschult und erfahren, um damit besser umgehen zu können. Auch das kann genau die Angst erzeugen, die Vergewaltigungsopfer an einer Aussage hindern. Realitätsnah erfahren wir im Film, wie sehr noch vor einem gesprochenen Urteil sowohl die Zeugin der Anklage wie der Angeklagte unter einer Dynamik zu leiden haben, die in solchen Fällen sofort einsetzt: gesellschaftliche Ächtung bei Klägerin wie beim Beklagten und beim CEO der Verlust seiner sozialen Stellung und seines Jobs.
Das offene Ende
Zurück zu unserem Fall. Er endet offen. Fast gewinnt man den Eindruck, dass nach dem letzten Statement des Angeklagten das Gericht mit Freispruch entscheidet, wenngleich auch das natürlich nicht sicher ist. Es steht die Frage im Raum, ob Zweifel an der Schuld des Mannes bestehen. Und es wäre nun uninteressant zu wissen, wie das Publikum vor dem Fernseher die Frage beantwortet.
Im Gerichts-Drama von Schirach ist das Ende offen. Bevor ein Urteil gesprochen ist, erhält das Gericht eine Aussage der Ehefrau des Angeklagten, dass der Angeklagte ihr gegenüber die Tat gestanden habe. Die Richterin muss also das Verfahren fortsetzen.
Dieses offene Ende besitzt dramaturgische Konsequenz. Sexualstrafverfahren haben oft ein Open-End. Es entspricht dem, dass ein Urteil oft nicht mit letzter Sicherheit gesprochen werden kann.
Das Regel- und Ordnungssystem der Gerichtsbarkeit kann sich gemeinhin einer Wahrheitsfindung aufgrund der Glaubhaftigkeit einer Aussage allenfalls annähern, so sehr es sich auch um den Schutz der Wahrheit bemüht und bemühen muss.
Die Grenzen der Gerichtsbarkeit
Der Film macht deutlich, inwiefern die Fähigkeit des Gerichts in einem Sexualstrafverfahren an seine Grenzen stoßen kann. Die Gerichtsbarkeit ist dazu aufgefordert, emotionale Regungen in der Beurteilung außen vor zu lassen und einer möglichst objektiven Bewertung Raum zu geben.
Doch es ist kompliziert für Gerichte, das zwischenmenschliche Feld subjektiver Wahrnehmungen, möglicher Projektionen und Sichtweisen tatsächlich zu einem objektiven Urteil zu führen. Es liegt in der Natur der Sache, dass dies nicht immer gelingen kann. Es gelingt umso besser, je mehr Erfahrung und Fortbildung alle Beteiligten in das Verfahren einbringen können. Und so heißt es aus dem Off am Ende des Films über das Dilemma des Gerichts, des Verfahrens und der Prozessordnung: „Aber es gibt keine Wahrheit um jeden Preis. Nur nach den Regeln der Strafprozessordnung dürfen Beweise erhoben werden. Diese Regeln sind streng, aber sie kanalisieren unsere Wut, sie ordnen unsere schwankenden Gefühle. Zorn und Rache lehnen sie als Ratgeber ab. Sie achten den Menschen und am Ende sind nur sie es, die uns vor dem voreiligen Griff nach der Wahrheit schützen.