Verständliche Opfer-Empathie, gefährlicher Opfer-Mythos
Warum die ZDF-Doku zum Fernsehfilm von Ferdinand von Schirach für die Wahrheitsfindung kontraproduktiv ist.
Man erwartet in einer TV-Dokumentation, dass sie sich auf einer rationalen Ebene inhaltlich mit dem auseinandersetzt, was in einem Fernsehfilm thematisiert wird. Der rationale Diskurs soll zu einem vertieften Verständnis und einer Objektivierung der Sachverhalte beitragen und in dieser Form über den Film hinausweisen. Im Fall der Doku zu Schirachs Film ist das bedauerlicherweise nur teilweise gelungen und aus meiner Sicht als Rechtsanwältin mit der Spezialisierung auf Sexualstrafrecht mit über 20 Jahren Erfahrung fällt der ZDF-Beitrag als begleitende sachliche Auseinandersetzung mit dem Film hinter der Realitätsnähe und Objektivität des Films zurück.
Zugegeben, es könnte gerade in diesem Fall in der Natur der Grenzen einer Doku liegen. Die erzählerische, verfilmte Darstellung hat es leichter, Zwischentöne zu vermitteln. Und es gibt bei einem Vergewaltigungsfall reichlich Zwischentöne. Objektiv zu bleiben ist bei diesem Thema nicht einfach, weil es mit der emotionalen Begrenztheit unserer Wahrnehmung konfrontiert, in der Regel Aussage gegen Aussage steht, es keine Zeugen und Beweise gibt, aber auch weil die öffentliche Meinung und die Medien durch ein zwar berechtigtes, aber mitunter unreflektiertes MeToo und einem fehlgeleiteten Opfer-Mythos geprägt sind. Das Thema Vergewaltigung und die ihr innewohnende Problematik der Wahrheitsfindung, die komplizierte Bewertung dessen, was sich in einem privaten Bereich zwischen den Geschlechtern bzw. SexualpartnerInnen abspielt, hat es mit den Abgründen und Untiefen zwischenmenschlicher Missverständnisse, unterschiedlicher Wahrnehmung ein und desselben Erlebnisses, mit möglichen Projektionen und irregeleiteten Gefühlen zu tun. Die Subjektivität menschlicher Wahrnehmung kann wie kaum in einem anderen Feld aus den unterschiedlichsten Gründen diametral auseinanderdriften. Es lässt sich nicht einfach auf den Punkt bringen, wenn es überhaupt denn vollständig möglich ist. Was aber in einer solchen Doku durchaus möglich gewesen wäre, ist eine ausführliche Auseinandersetzung mit genau der Beschränktheit und Fehlerhaftigkeit menschlicher Wahrnehmung, die für eine Beurteilung im Sexualstrafrecht den Begriff der Glaubhaftigkeit ins Zentrum stellt und damit einräumt, dass Objektivität angesichts der Abwesenheit realer Beweise nur ein Näherungswert sein kann, der in der Regel auch subjektive Faktoren beinhaltet.
Chance vertan
Man kann der Doku nicht absprechen, dass sie sich bis zu einem gewissen Grad darum bemüht. Aber — und aus meiner Sicht ist das ein großes ABER — wird in der Doku der rationale Weg immer wieder verlassen. Der ZDF-Beitrag erscheint mir als Expertin und Kennerin der Materie als moralisierend im Sinne des verbreiteten und nicht immer zutreffenden Opferschutzes. Was die Doku auch macht, ist Stimmung für eine unreflektierte Opfer-Empathie, die leider in der Öffentlichkeit und in den Medien bis hinein in die Gesetzgebung weit verbreitet ist.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Selbstverständlich müssen Opfer geschützt werden und sollten alle, die eine Vergewaltigung erleiden müssen, sich angstfrei an die Behörden wenden und möglichst angst- und schamfrei gegenüber ihrem sozialen Umfeld agieren können. Doch wenn es um die Wahrheitsfindung in einem Gerichtsverfahren geht, sind voreingenommene Empathie für vermeintliche Opfer und vorweg genommene Verurteilungen vermeintlicher Täter brandgefährlich. Sie können schnell in existentielle und strafrechtliche Katastrophen führen. Wie oft habe ich schon erlebt, dass allein schon der Vorwurf einer Vergewaltigung sofort den Job und die Existenz des Betroffenen ruiniert haben, schon bevor ermittelt wurde.
Im Film von Ferdinand von Schirach bleibt das nicht unerwähnt. Wir erfahren, wie schlimm es beiden Personen ergangen ist, nachdem der Vorwurf geäußert war. Was die Doku angeht, kann ich aus meiner Sicht nur sagen: Die Chance zu einer differenzierten Betrachtungsweise, zu der Ferdinand von Schirachs Drehbuch die Steilvorlage bietet, wurde vertan.
Die gute Seite der Doku
Eine durchaus angemessene Vorgehensweise findet im ZDF-Beitrag dann statt, wenn die Experten sprechen. Es sind insbesondere die auf Sexualstrafsachen spezialisierten Richter wie Benjamin Roellenbleck, Vorsitzender einer großen Strafkammer beim Landgericht Köln, der sich in erster Linie mit Sexualstrafverfahren zwischen Erwachsenen beschäftigt, oder dem Vorsitzenden Richter am Landgericht A.D. Klaus Haller und weitere Experten wie die Professorin für Aussagepsychologie, die Licht in das komplexe Thema bringen. Sie vermitteln, wie kompliziert sich meist die Wahrheitsfindung in Sexualstrafverfahren gestaltet, setzen sich mit der Frage auseinander, wie unangenehm es für das Opfer einer Vergewaltigung sein kann, sich den nötigen Untersuchungen und Ermittlungen zu unterziehen, um eine belastbare Qualitätsaussage zustande zu bringen, die dann tatsächlich zu einer Anklage führt.
Und sie sprechen auch darüber, dass die Bewertung und Urteilsfindung der Aussagen oft nicht zweifelsfrei sein kann, und dass man selbst als Richter nicht völlig frei von emotionalen Einflüssen agiert. Sie weisen deshalb darauf hin, dass die fachjuristische Ausbildung allein nicht ausreichen kann, einem Vergewaltigungs-Prozess gewachsen zu sein und eine spezielle Schulung aller in einem solchen Verfahren Beteiligten vonnöten ist. Vielleicht für die Öffentlichkeit ein Hinweis, sich einer nur emotionalen Bewertung mehr zu enthalten, der gerne hätte explizit ausgesprochen werden können.
ABER: Der tendenziöse Kontext
Nun, man kann von einem ZDF-Redakteur vielleicht nicht erwarten, dass er sich der Mainstream-Meinung entgegenstellt und sich vielleicht sogar dazu konträr verhält. Für mich als Rechtsanwältin, die in solchen Verfahren auf der Seite der Verteidigung sitzt und einige Fälle unberechtigter falscher Anschuldigungen erlebt hat, erscheint es fragwürdig, diese Seite nicht zu thematisieren und mit einer hochemotionalen Opfer-Geschichte die Dokumentation emotional zu überlagern.
Die Doku setzt die differenzierten Aussagen, von den ich eben gesprochen habe, in den Kontext der berührenden Geschichte des Opfers einer Vergewaltigung. Eine junge Frau berichtet emotional sichtlich ergriffen davon, wie sie von einem guten Freund vergewaltigt wurde. Körperlich unterlegen konnte sie sich der sexuellen Gewalt nicht erwehren. Die Traumatisierung wird spürbar. Sie berichtet von der Tortur im Krankenhaus, der ersten Begegnung mit ihrem Vater und der sie überfordernden Ermittlung. Vor Gericht fand eine Verurteilung statt. Der Täter aber entzog sich der Verhaftung und ist seitdem untergetaucht. Wir haben es im Unterschied zum Film mit einem klaren Fall zu tun, dessen Tragödie keinesfalls widersprochen werden soll. Die Frau ist das Opfer, der Mann der Täter. Damit aber bedient er gerade den heiklen Opfer-Mythos, der ein gefährliches Täter-Opfer-Muster hervorruft, das die Wahrheit von Sexualdelikten allzu oft verstellt.
Das Beispiel der Frau im ZDF-Beitrag entspricht dem Vergewaltigungs-Mythos, der von vielen Menschen geteilt wird und Grundlage der Vorstellungen ist, wenn von einer Vergewaltigung die Rede ist und nach dessen Mustern verurteilt und medial berichtet wird.
Der Film ist da bei weitem differenzierter und entspricht mehr der Realität eines unklaren Beziehungsverhältnisses in den meisten Fällen. Flankiert wird diese Geschichte des bemitleidenswerten Vergewaltigungsopfers durch den mitfühlenden Kommentar einer Rechtsanwältin, die für mehr Opferschutz plädiert. In diesem Kontext wird berichtet, wie sehr in Deutschland Frauen als Vergewaltigungsopfer gefährdet sind. Begleitet wird dies wiederum durch Ausführungen einer Sprecherin des Bundesverbands Frauen-gegen-Gewalt, die im Übrigen schon auch versucht, differenziert zu argumentieren. Auch sie stimmt zu, dass der übliche Vergewaltigungs-Mythos bei vielen Menschen den Blick für die Realität des Themas trüben kann. Ohne aber, dass nun die Realität des Themas ausgeführt wird.
Was aus meiner Sicht die ZDF-Doku den Weg rationaler Auseinandersetzung verlassen lässt, ist, dass durch den breit angelegten emotionalen Bericht über die junge Frau als Opfer genau diesem Vergewaltigungs-Mythos Vorschub geleistet wird. Für die Zuschauer wird so bestätigt, was in vielen Köpfen gängige Meinung ist. Die Frauen sind generell die armen Opfer, die Männer sind die schlimmen Täter. Das ist in der Realität durchaus eine Möglichkeit, aber eben nur eine Möglichkeit.
Dieser gesellschaftlich verbreiteten Voreingenommenheit stehen unzählige Fälle gegenüber, in denen Frauen gezielt den Vorwurf der Vergewaltigung dazu nutzen, um in Sorgerechtsstreitigkeiten ihre Position zu verbessern. Oder um schlichtweg einen Rachefeldzug gegen verflossene Liebhaber zu führen. Oder in denen Frauen sogar einvernehmliche sexuelle Handlungen zum Vergewaltigungsfall erklären, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen und sich vor erzkonservativen Eltern reinzuwaschen. Oder – und auch das ließ sich schon nachweisen – wo Frauen nach Jahren durch fehlgeleitete Traumatherapien auf ein Feld der Projektionen und realitätsferner Wahrnehmung geführt werden. (Über einige dieser Fälle habe ich schon in meinem Blog berichtet.)
Was sich zwischen Frauen und Männern sowie gleichgeschlechtlichen Partnern abspielen kann und eben nicht der Schwarz-Weiß-Malerei hochmoralisierender und mitunter nicht gerechtfertigter Opfer-Empathie entspricht, könnte Bände füllen. In der Doku bleibt diese Seite unthematisiert und lässt eine Einseitigkeit entstehen, die trotz aller guten Ansätze in die Richtung führt, die dann doch wieder den moralisierenden Mainstream bestätigt und einen realistischen Blick auf das Thema hintertreibt.
Und wo bleibt der Anspruch auf Wahrheitsfindung?
So vertritt die Doku im Unterschied zum Film eine weitaus weniger differenzierte Botschaft zu diesem schwierigen Thema. Sie fällt hinter dem zurück, was im Strafgerichts-Kammerspiel von Ferdinand von Schirach als Drehbuchautor und Matti Geschonneck als Regisseur, angelegt, gezeigt und vermittelt wird.
In der Ankündigung formuliert das ZDF für die Doku den Anspruch, sich mit dem Thema Wahrheitsfindung auseinandersetzen zu wollen. Die Sendeanstalt stellt dezidiert die Frage: „Wie gelingt Wahrheitsfindung im Gerichtssaal, wenn Aussage gegen Aussage steht?“
Diese Frage wird nur unzureichend beantwortet. Die angekündigte journalistische Auseinandersetzung mit dem zentralen Thema der Wahrheitsfindung findet nur zu einem Teil statt. Sie geht unter in einer vermutlich als publikumswirksam gedachten und dem Thema nicht gerecht werdenden Emotionalisierung der Opfer-Empathie. Die hochemotionale Begründung der Opfer-Empathie bestätigt dann doch den kritisierten Opfer-Mythos, der die Realität und Wahrheit dessen aus dem Blick geraten lässt, was zwischen Erwachsenen bei Vergewaltigungsvorwürfen tatsächlich geschieht. Der Opfer-Mythos vernebelt in seiner Schwarz-Weiß-Malerei den objektiven Blick auf die wirklich stattgefundenen zwischenmenschlichen Prozesse. Er behindert die Wahrheitsfindung bei Sexualdelikten mehr, als dass er sie befördert.